O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Thilo Beu

Aktuelle Aufführungen

Richtig falsch

Eine Oper ohne Sujet und Handlung? Professionelle Sängerdarsteller ohne Soloarien, Rezitative und Ensemblenummern? Orchestermusiker, die zwar Klänge hervorbringen, aber keine Melodien? Eine Satire? Doch – ein solches Kunstwerk existiert. Staatstheater erlebt im April 1971 seine Uraufführung an der Hamburgischen Staatsoper. Mit dem Oper, Ballett und Sprechtheater umgreifenden Werk Szenische Komposition unternimmt Mauricio Kagel den revolutionären Versuch, die Kunst der Oper vom Kopf, wie er meint, auf die Füße zu stellen. Der vorherrschende Inszenierungsstil schade – so Kagel – der wahren Kunst, da er die Visualisierung des Stoffes über die musikalische Sache stelle. Daher gehöre er abgeschafft und durch eine neue Kunst ersetzt, die es dem Publikum ermögliche, Musik zu empfinden und zu verstehen. Die Premierenbesucher am Hamburger Dammtor sehen in dem Stück einen Anschlag auf sich und ihre Loyalität zur konventionellen Oper. Die Uraufführung und alle weiteren Hamburger Vorstellungen verlaufen unter Polizeischutz.

Jetzt, sechs Monate nach der Pandemie-Zäsur, bringt das Bonner Opernhaus zum Wiedereinstieg in die Spielzeit Staatstheater unter Corona-Bedingungen heraus. Gut 300 Plätze sind für Besucher ausgewiesen, in der Voraufführung wie der Premiere am Folgetag. Es gibt durchaus plausible Gründe, Kagels in den letzten 50 Jahren kaum aufgeführtes „Experiment“, wie es Bonns Operndirektor Andreas K. W. Meyer nennt, zum jetzigen Zeitpunkt auf die Bühnenbretter eines Musiktheaters zu hieven. Wenn in Kagels Sichtweise die ewig gleichen Inszenierungen von Aida, Eugen Onegin, La Bohème den Standard der Repertoire-Vermittlung ausmachen, erscheint es im Interesse der Gattung Oper, die zu hinterfragen. Auch im Sprechtheater hat es solche Experimente gegeben. Erinnert sei lediglich an Sechs Personen suchen einen Autor des Nobelpreisträgers Luigi Pirandello – ein Stück, das vor rund 100 Jahren eine Wende im Theater auslöste.

Für die Entscheidung der Verantwortlichen um Generalintendant Bernhard Helmich, Staatstheater eine neuerliche Bühnenpräsenz zu verschaffen, spricht der Zeitpunkt im sich gerade neu findenden Spielplan – auch wenn das im Stadium dessen Planung noch gar nicht absehbar war. Die Wahl des Stücks verspricht oder lässt zumindest vorsichtig ein neues Opernverständnis für die Zeit nach Corona ahnen. So mag man das Unterfangen als eine Art Selbstverpflichtung des Stadttheaters verstehen, nicht auf den Stil der schwelgerischen Opernopulenz, die Dominanz der Schauwerte zurück zu verfallen. Im Sinne des Kagelschen „instrumentalen Theaters“ könnte sich der Apparat der Oper durch Inszenierungen emanzipieren, die der Musik Sichtbarkeit einräumen. Nicht zuletzt durch vermehrte Produktionen von Werken der zeitgenössischen Musik.

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Als ergänzender praktischer Umstand kommen dem Bonner Wagnis zudem noch Biografie und Werkverzeichnis des 1957 in einer jüdischen Familie in Buenos Aires geborenen Künstlers zupass. Die Kulturszene Bonns steht bekanntlich jetzt und in den kommenden Monaten im Zeichen des 250. Geburtstags Beethovens. 1970, dreizehn Jahre nach Übersiedlung Kagels in seine Wahlheimat Köln, entsteht der Film Ludwigvan. Seine Schauplätze umkreisen Bonner Spuren des Komponisten. Mitstreiter einer neuen Kunstbewegung sind mit von Kagels Partie. So agiert Joseph Beuys in einer mehrminütigen Einstellung in „Beethovens Küche“, die im Bonner Beethovenhaus nachempfunden worden ist.

Die Umsetzung von Staatstheater ist in Bonn dem Regisseur Jürgen R. Weber anvertraut, was sich im Verlauf des 100-Minuten-Abends als eine heikle Lösung erweist. Weber, Regisseur und Autor von TV-Serien vor seiner Arbeit als Opernregisseur –zuletzt Marx in London von Jonathan Dove 2018 in Bonn – gibt den Bonn-Bezügen übermäßig viel Raum. Der eigentlich intendierten Reflexion über „richtige“ oder „falsche“ Operninszenierungen nimmt er somit Etliches an Aufmerksamkeit. Lokal mögen Verweise auf die latenten Bonner Finanzierungsquerelen Sport versus Oper oder umgekehrt reizvoll sein, auf der Bühne wie auch als neckische Aktion im Foyer. Zur Vermittlung der ambitionierten Sache tragen sie nichts bei. Auch nicht das dekorative Zeitungsschiff, das sich Hank Irwin Kittel für das Bühnenbild hat einfallen lassen.

Ausgerechnet zu Ludwigvan liefert Webers Inszenierung keinerlei Kontext. Keine Ausschnitte, keine Zitate. Auch keine „Begleitmusik“, die dem Film zu neuerlicher öffentlicher Beachtung verhelfen könnte. Zusammen mit Kittel ist er stattdessen auf die Idee gekommen, Beethoven als dekorative Gipsfigur in Erscheinung treten zu lassen. Und als Püppchen, wie man es aus dem Spielzeug von Kindern kennt. In ausschweifenden Videosequenzen wird beiden obendrein übel mitgespielt. Mal landen sie im Rhein. Dann werden sie von einem Hammer zerschmettert, von einer menschlichen Hand malträtiert. Irritierend zudem, wenn die Hand mit ihren rot lackierten Fingernägeln dem Beethoven-Püppchen eine weibliche Puppe in diversen Stellungen beigesellt, die nur als Anspielung auf das Leben des Komponisten zeit seiner Wiener Jahre fern einer erotischen Erfüllung verstanden werden kann. Die „ferne Geliebte“ mutiert zu einer traumatischen Erfahrung. Im Schlussbild wird zumindest die intakte Gipsfigur wieder sichtbar. Zuviel der destruktiven Courage? Dieser Teil der Inszenierung liegt so völlig quer zum Ansinnen Kagels, dem Weber folgt. Zur „musikalischen Sensibilisierung“ des Publikums trägt er nichts bei, wirkt insgesamt wie ein Fremdkörper. Krude Dialektik – ein Element „Regietheater“ in einem gegen ein bestimmtes Regietheater gerichteten Lehrstück, dessen Überspitzung Kagel vor 50 Jahren womöglich schon geahnt hat.

Staatstheater ist in seiner künstlerischen Essenz ein Kompendium von freien Aktionen, die jeweils mit bestimmten Klängen und Instrumenten korrespondieren. Diese sind zum Teil dem Repertoire des Alltags entliehen. In Bonn sind indes nur einige wenige davon zu erleben. Eindruck machen Metronome, die mit lautem Klick-Klack von einer Gruppe präsentiert werden, die als Kugelwesen drapiert ist. Die sieben Musiker des Beethoven-Orchesters Bonn – mal im Graben, mal Corona-bedingt hinter Plexiglas auf der Bühne – bringen unter der umsichtigen musikalischen Leitung Daniel Johannes Mayrs allerlei ungewöhnliche Geräusche hervor. Es wird gesägt und geknirscht. Vogelstimmen mischen sich ein. Insgesamt ein Affront gegen die musikalische Verführungskraft der traditionellen Oper mit ihren Tongemälden und ihrem Klangrausch. Viele Geräusche kommen vom Band, so dass in Bonn nicht die Breite der Instrumente für die Hamburger Uraufführung erreicht wird. Immerhin – getrommelt wird nach Herzenslust.

„Genetisch“ bedingt liegt dem Ganzen keine klassische Partitur zugrunde, sondern ein viele Hundert Seiten umfassendes Logbuch von präzisen Vorgaben zur Aufführung. Titel einzelner Teile wie „Ensemble für 16 Stimmen“, „Debüt für 60 Stimmen“, „Saison. Sing-Spiel in 65 Bildern“, „Freifahrt. Gleitende Kammermusik“ lesen sich wie eine Navigation durch die Kagelsche Komplexität. Auf der Bühne ist diese Komplexität eine bunte Abfolge von Szenen zwischen den Polen Zirkuszauber, Slapstick, Balletteinlagen und Kika-Welt mit Kostümen von Kristopher Kempf, die mit den Standards von Oper, Ballett und Theater ihr frivoles Spiel treiben. Zu sehen gibt es Banales, Absurdes, manchmal Erbauliches. Vor einem blauen Hintergrund einen Sprungturm, wie er in jedem Schwimmbad zu beobachten ist. Dann ein in Quer- und Längslinien geteiltes Gestell, das sich durch Drehung in ein Theater im Renaissancestil wandelt.

Mi Schme! Mi Schme! Plä Schmö! Blö Nö! Yannick-Muriel Noah als Intendantin und Tobias Schabel als Oberbademeister werfen sich mit großer Vehemenz in die Kagelsche Opernsprache, die keine ist. Deklamatorisch und körpersprachlich herausragend Marie Heeschen, die Tochter der Intendantin, speziell in ihrem Ringen um die Zuneigung des Sohnes des Oberbademeisters, den Kieran Carrel darstellt, was folgerichtig später in ein Duett einmündet. Physisch gibt Giorgos Kanaris als Regisseur eine Menge. Vornehmen Glanz liefert Anjara I. Bartz als Unabhängige Ärztin.

Richard Wagner lässt im Rheingold Froh in reinster Belcanto-Manier die „jubelnde Lust leidlos ewiger Jugend“ besingen. Die juvenile Facette klassischer Oper fehlt bemerkenswerterweise im Bonner Staatstheater nicht. Bringt sie doch der Jugendchor des Theaters Bonn unter Leitung von Ekaterina Klewitz – 45 Jugendliche, ergänzt um vier Kinder – mit einer Spontaneität, Spielfreude und musikalischen Könnerschaft ein, die zum tragenden Element der gesamten Produktion avancieren. Mühelos wechseln die Choristen als Sänger oder mitspielende Akteure die Szenerien, so von der Bade- in die Theaterwelt, wandeln sich wiederum zum „Bürgerchor“. Was wegen der Pandemie an vorab aufgenommenen Einspielungen via Lautsprecher zu hören ist, ist Chorkultur vom Feinsten. Ein großes Kompliment, zumal unter den widrigen Umständen dieser Monate!

Von „Skandal“ wie 1971 kann im September 2020 nicht die Rede sein. Das Publikum der Vorpremiere reagiert mit freundlichem Beifall für alle Mitwirkenden. Ob Kagels analytischer Ansatz die, wie wir heute besser wissen, bisweilen selbstgefällige, auf Effekte und mediale Aufmerksamkeit schielende Inszenierungskonvention die Gegenwart des Musiktheaters trifft, ist nur empirisch im Einzelfall zu beantworten. Die Kagelsche Konsequenz, den konventionellen Musiktheaterbetrieb abzuschaffen und durch ein Forum der Bühne als Klangtheater zu ersetzen, würde freilich diesem die existentielle Grundlage entziehen. Das sollte bei aller analytischen Wucht Kagels nicht in Vergessenheit geraten.

Ralf Siepmann