O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Michael Staab

Aktuelle Aufführungen

Netrebko versus Ukraine

SOLIDARITÄTSKONZERT
(Diverse Komponisten)

Besuch am
29. August 2022
(Einmalige Aufführung)

 

Beethovenfest Bonn, Opernhaus Bonn

Ein bedrückendes Szenario: Während vor der Kölner Philharmonie Demonstranten gegen den Auftritt der Putin nahestehenden und vielerorts in Ungnade gefallenen Star-Sopranistin Anna Netrebko rebellieren, kämpft nur wenige Kilometer entfernt die Dirigentin Oksana Lyniv im Bonner Opernhaus mit den Tränen, als sie am Pult des Jugendsinfonieorchesters der Ukraine das Publikum begrüßte.

In Köln Diven-Glamour mit Belcanto-Schmankerln von Donizetti bis Puccini, den sich das Publikum bis zu 330 Euro pro Karte kosten lässt – in Bonn betroffene Sympathie mit den etwa 80 jungen ukrainischen Musikern im Alter von zwölf bis 22 Jahren, die seit drei Monaten durch Europa touren. Hier sind sie zwar vor den akuten Gefahren des Kriegs sicher, aber mit ihren Gedanken bei ihren Familien und mit der Ungewissheit lebend, wann sie zurückkehren können und in welchem Zustand sie ihre Heimat wiederfinden werden. Man sieht und hört den jungen Leuten die Sorgen an. Allerdings nicht auf Kosten der musikalischen Qualität, die der des Bundesjugendorchesters nicht nachsteht, mit dem es eng kooperiert.

Oksana Lyniv, die international renommierte Dirigentin, die nicht nur als erste Frau am Pult der Bayreuther Festspiele auf sich aufmerksam machte, stammt selbst aus der Ukraine. Sie hat das Orchester vor fünf Jahren mit Unterstützung des Beethovenfests und der Deutschen Welle in Bonn gegründet. Mit großen Hoffnungen, wie sie betonte, sie hätte aber nie damit gerechnet, „in einer so fürchterlichen Situation“ in der Geburtsstadt Beethovens auftreten zu müssen.

Foto © Michael Staab

Für den neuen Intendanten des Beethovenfests, den 36-jährigen Cellisten und Kulturmanager Steven Walter, ist es eine Selbstverständlichkeit, gerade in der Verpflichtung des von Beethoven gestellten humanistischen Anspruchs, Stellung zu den Verbrechen am ukrainischen Volk zu nehmen. Mit der Einladung des Jugendsinfonieorchesters, aber auch mit weiteren Veranstaltungen, unter anderem am 8. September mit einem Konzert im Plenarsaal des ehemaligen Bundestages mit Chören aus Belarus, der Ukraine und Deutschland.

Der Auftritt des Jugendsinfonieorchesters versetzt der Eröffnungsphase des bis zum 17. September dauernden Fests den nachdenklichsten Akzent, nachdem das Budapest Festival Orchestra, die Mezzosopranistin Elina Garanča und das Orchestra dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia für repräsentativen Glanz gesorgt haben.

Nicht nur aufgrund ihrer blau-gelben Bauchbinde glaubt man Oksana Lyniv, wenn sie bekennt, wie schwer es ihr und den Musikern fällt, die unter dem direkten Einfluss des Angriffskriegs entstandene Komposition Bucha. Lachrymae der ukrainischen Komponistin Victoria Poleva zu spielen. Eine herzzerreißend zarte, sich verzweifelt steigernde, letztlich still verhallende Elegie für Violine und Orchester, benannt nach einem von Massakern betroffenen Stadtteil Kiews, die beim Publikum einen großen Eindruck hinterlässt. Als die jungen Leute Beethovens 3. Klavierkonzert mit dem Solisten Dmytro Choni anstimmen, können sie sicher sein, dass Beethoven, der während des Angriffs der napoleonischen Truppen auf Wien im Keller seines Bruders Zuflucht suchte, ihre Ängste und Sorgen verstehen dürfte.

Der Beifall nach dem finalen Zugstück mit Dvořáks Symphonie aus der Neuen Welt steigert sich zu Ovationen der Solidarität. Der Veranstalter des benachbarten Auftritts von Anna Netrebko hat übrigens angekündigt, den Erlös ukrainischen Hilfsprojekten zukommen zu lassen.

Pedro Obiera