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IWEIN LÖWENRITTER
(Moritz Eggert)
Besuch am
13. Februar 2022
(Premiere am 30. Januar 2022)
Mozarts Zauberflöte erlebt ihre Uraufführung 1790. Seit ihrem Generationen umspannenden Erfolg von der ersten Stunde an wird nach Opernstoffen gesucht, die ein Publikum von acht bis achtzig in ihren Bann ziehen und verstanden werden. Rimski-Korsakows Märchenoper Der Goldene Hahn nach Puschkins Fabel könnte eine Antwort sein, ist aber weitgehend auf Aufführungen im slawischen Raum beschränkt. Die beiden bekanntesten Aschenputtel-Vertonungen, Cendrillon von Massenet und La Cenerentola von Rossini, werden zu selten in Inszenierungen aufgeführt, in denen sich auch Besucher von Musiktheatern unter 18 verführen lassen. Von der in ein Musikspektakel verwandelte Fabel vom sozialen Aufstieg, der auch bei Instagram und anderen sozialen Netzwerken geträumt wird. Von der Kunst der Oper überhaupt. Wer nun einwendet, Humperdincks Hänsel und Gretel erfülle die Anforderung einer Nachfolge-Zauberflöte, sollte sich einmal einer Diskussion mit jungen Besuchern einer Aufführung stellen. Und zuhören, wie sie etwa über Humperdincks Musik in der romantischen Spur Wagners sprechen.
So gesehen, ist mit Moritz Eggerts jüngster Oper Iwein Löwenritter grundsätzlich eine Ambition zu begrüßen, die sich anschickt, dezidiert ein Publikum „ab acht Jahren“ zu erreichen. Im Rahmen der Reihe Junge Opern Rhein-Ruhr ist das Ritter-Epos, eine Kooperation des Theaters Bonn mit der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf Duisburg und dem Theater Dortmund, die fünfte Familienoper. Ein Projekt, das sehr viel Zukunft atmet. Das Libretto für das Auftragswerk stammt von der Autorin Andrea Heuser. Dessen Grundlage ist der Kinder- und Jugendroman Iwein Löwenritter von Felicitas Hoppe, die wiederum aus der mittelalterlichen Quelle des Hartmann von Aue schöpft.
Ist der Besuch des Zweiakters, der mit seiner Pause angenehmen Raum für erste Debatten um das Erlebte erlaubt, ohne Einschränkungen zu empfehlen? Idealerweise Kindern in Begleitung ihrer Eltern oder Großeltern? Familienoper, wie gesagt. Diese Frage sollte nicht mit einem schlichten Ja beantwortet werden. Eine Rolle spielen die Familienmilieus, in denen Kinder und Jugendliche mit klassischer Musik und dem Musiktheater vertraut gemacht werden- oder eben nicht. Ebenso die Schulen, die – wie offenkundig einige im Raum Bonn – sich um eine gewisse Vorbereitung kümmern – oder eben nicht.
Dabei unternimmt Heuser, die Lebensgefährtin des Komponisten, von Beginn an eine ganze Menge, um die Generation der digital natives für das Spektakel zu gewinnen. Bevor sich der Vorhang zu dem großen Abenteuer öffnet, in das Iwein nach seinem Abschied aus der Ritterrunde des Königs Artus aufbricht, gibt es erst einmal eine Portion medialer Gegenwart. Anstatt sich intensiv für die Bewohner des Zoos zu interessieren, in den sie ein Schulausflug geführt hat, „hängen“ die Freunde Leon und Gereon im Baseball-Outfit mit ihren Smartphones „rum“.
So bei dem gepackt, was junge Besucher kennen dürften, nimmt das Eigentliche seinen Lauf. Der Löwe hinter den Gitterstäben in ihrem Rücken, von Puppenspieler und Schauspieler Christoph Levermann hinreißend zum Leben gebracht, beginnt zu sprechen. Die Rahmenhandlung schlägt um in die Manege des Zaubers, in der allerlei Gefahren und Mutproben auf die Freunde, nun Iwan und Gawein, warten.
Wie Siegfried in Wagners Ring des Nibelungen ist Iwein jung, von großer Kraft und Unerschrockenheit, begierig auf die Welt und den Anteil an Ruhm und Ehre, die diese ihm zu bieten hat. Naiv, wie er anfänglich ist, bringt Iwein eine Quelle zum Bersten, was umgehend von einem Gewitter getoppt wird. Sein Schwert streckt den alarmierten Burgherrn nieder. Als fühle sich Laudine, die Burgherrin, wie aus einem Ehejoch befreit, geht sie auf das Liebesverlangen des Ritters ein. Die Märchenoper hat ihr Traumpaar! Nach allerlei Abenteuern, die seinen Mut im Gefecht mit einem Drachen und im Kampf mit allerlei Bösewichten und wilden Männern beweisen, und einer Reise zum Ich finden Iwein und Gawein zusammen. Und der nun gereifte Ritter mit Laudine sein Glück.
Für die Manege des Zaubers hat sich Regisseur Aron Stiehl zusammen mit seinem Ausstattungsteam einen wildbunten Bilderbogen einfallen lassen, der Szene für Szene um die Ablieferung von Schauwerten kämpft. Immerwald, der Ort des Ritterepos, wird am Rhein in Thomas Stingls Bühnenbild zu einem Naturpanorama, aus dem die aufeinander folgenden Schauplätze in Form gemalter Kulissen hervortreten. Die diversen Widersacher Iweins, der in Ritterrüstung samt Schwert voranstürmt, fechten ihre Kämpfe in fantastischen Kostümen aus, die Sven Bindseil mit Hingabe zudem und ganz besonders dem Chor hat angedeihen lassen. Das von Marco Medwed einstudierte, wieder einmal prächtig agierende Ensemble gefällt in Outfits von Böcken und Bären, Füchsen und Ziegen.
Kurios bis bizarr das Panoptikum der Lebewesen in Immerwald. Der wilde Mann, der rückwärts spricht, was der russische Bass Pavel Kudinov, der auch die Rolle von Iweins Gegner spielt, ausgezeichnet beherrscht. Auch die Vögel im Wald sind nicht mit dem üblichen Zirp-Zirp und Trilili zu vernehmen. Sie verkünden ihre Botschaft auf Altdeutsch, was so etwas wie eine Referenz gegenüber der Vorlage aus dem Mittelalter bedeutet, im Parkett aber kaum erkannt und verstanden wird.
Das Ganze hat in Verbindung mit Eggerts Musik die Anmutung einer Blockbuster-Performance. Ständig wechselnde visuelle Effekte reihen sich in ständig steigerndem Tempo aneinander, als wollten sie die auf einer Bühne nicht möglichen Schnitttechniken des Kinos kopieren. Momente des Innehaltens wie der Nachthimmel über der Liebesbeschwörung, aus dem die Sterne funkelnd zu Boden sinken, sind durchweg Ausnahmen. Die Intention, der Fantasie – auch mit Blick auf die Kinder im Theater – auf die Sprünge zu helfen, kippt spätestens zur halben Strecke in einen optischen Reiz der Belanglosigkeit ab. Durch Immerwald, seine Schönheiten und Helden, zieht sich mehr als ein roter Faden. Geknüpft, gern auch gewebt wird Faden um Faden, Stück für Stück. Doch zusammengefügt zu einem Teppich, der sich mit einem spektakulären Bild als Dekor an der Wand förmlich aufdrängt, wird es nicht.
Das Sprachgefühl der Librettistin, die mit Wenn wir heimkehren gerade ihren zweiten Roman veröffentlicht hat, ist enorm. Sie flirtet mit Ironie, wenn sie von den Texten in der Oper erzählt, die „manchmal schwer zu verstehen“ seien. Ihre Verse können genau auf den Punkt, knapp und bildreich zugleich sein. Sie erklimmen die höchsten Gipfel psychologischer Selbsterkundung. Ich gebe Dir mein Eins-Sein oder Auf der Suche nach Dir treffe ich mich, lässt sie die Protagonisten sprechen. Trefflich fürwahr. Ist doch Iweins Abenteuer tatsächlich eine Reise der Selbsterkundung. Durchaus aktuell im Übrigen, wird doch durch die Neuauslotung der Geschlechter indirekt auch nach Inhalten einer neuen Ritterlichkeit gefahndet. Doch wie soll das ganz junge Publikum das verstehen? Erstens überhaupt. Und zweitens, wenn es visuell und durch die streckenweise bombastische Musik förmlich erschlagen wird.
Foto © Thilo Beu
Apropos Musik: In einem Beitrag für die Bonner Theaterzeitung bekennt sich Eggert zu einem „Nebeneinander aller musikalischen Ausdrucksformen“: „Für mich ist es nie ein Widerspruch, von Vierteltönen und modernen Kompositionstechniken zu Melodien und mittelalterlichen Klängen zu kommen.“ Aus diesem Credo ist dann auch eine vielgestaltige und vielstimmige Klangwelt entstanden, in der Leitmotive Figuren und ihre Haltungen zeichnen, orchestrale Gruppen mit Pauken und Trompeten von geheimnisvollen Waldtieren und allerlei Naturgewalten erzählen. Eggerts Musiksprache überfordert nicht. Sie hat keine Angst, unterhaltsam zu erscheinen, populär daher zu kommen, ohne sich anzubiedern. Sie entzieht sich auch der Attitüde, mit Blick auf die Kinder im Publikum, zu ihnen, wie der Komponist sagt, „herunterzuschreiben und alles musikalisch simpler zu machen“. So weit, so menschlich.
Im Gegensatz dazu steht Eggerts Verliebtsein in einen knalligen Turbosound, der vieles zuschüttet und den menschlichen Charakteren Chancen der Nuancierung und der Differenzierung nimmt. Die Tonlandschaft ist plakativ, vordergründig, direkt. Niemals auf einer Metaebene kommentierend und das Gezeigte weiterführend. Daniel Johannes Mayr – alles in allem – ist ein vorzüglicher Sachwalter der Partitur. Unter seiner musikalischen Leitung lässt es das Beethoven-Orchester Bonn knallen und flirren, gewittern und zirpen. Wohl ein Stück so, wie es die älteren Kinder aus den Computerspielen gewohnt sind.
Die vier Hauptpartien sind vorzüglich besetzt. Tenor Anton Kuzenok gibt Iwein klanghell, streckenweise recht burschikos Stimme und Statur. Der Bariton Jakob Kunath ist ein vitaler und stets präsenter Gawein. Lada Bočková, zuletzt Clorinda in der Bonner La Cenerentola, ist mit schmelzendem Sopran eine Laudine, die berührt. Quasi ein Gegentyp, rauh, rigide und manchmal grell, interpretiert die beeindruckende Mezzosopranistin Katharina von Bülow die Figur der Hofdame Lunete, die Iwein den Kampf ansagt. Gewandet in ein Kostüm mit Schachbrettmuster, fungiert sie im zweiten Akt als Erzählerin, die für das Publikum die Handlung zusammenfasst. Im ersten Akt übernimmt diesen Part ein Löwe, den der Sänger Michael Krinner mit großem Engagement mimt.
Den charmanten Einfall des Librettos, nicht nur Laudine und Iwein, sondern überdies ihre Herzen zueinander finden zu lassen, findet in Sarah-Léna Winterberg als Laudines und Ava Gesell als Iweins Herz stimmkräftige Interpretinnen. Insbesondere Gesell, zuletzt die Kartenaufschlägerin in der Bonner Ariadne, bestätigt Iweins zu Herzen gehende Liebe mit kräftigem Schlag auf dem Tambourin, der beiden mitgegeben ist.
In den Schlussbeifall, der von allen Seiten auf die Mitwirkenden prasselt, mischen sich sehr spontan und sehr herzhaft Jubelschreibe und einige Bravo-Rufe. Jede Menge action in den Reihen voller disziplinierter Mund-Nasen-Schutz-Insignien.
Eine Blitzumfrage unter ganz jungen Besuchern der Bonner Aufführung, Elisa und Nikola, beide neun Jahre alt, sowie Anne und Felicia, beide 13-jährig, macht bewusst, wie der Graben auf der Suche nach einer funktionierenden Familienoper zwischen gut gemeint und gut gemacht beschaffen sein kann. Gefallen hat ihnen, wie sie berichten, durchweg Eggerts Tonmalerei. So habe sich etwa die Musik „traurig angehört, wenn die Menschen auf der Bühne auch traurig gewesen sind“. Mit der Geschichte habe es so seine Schwierigkeiten gehabt. Ohne den ständigen Blick auf die Übertitel sei es kaum möglich gewesen, der Handlung zu folgen. Auf eine Lieblingsfigur wollte sich keiner der Vier festlegen. Eine Frage der Dramaturgie?
Iwein Löwenritter wird an Rhein und Ruhr weiterhin seine Abenteuer und seine Laudine suchen. Andere Inszenierungen könnten folgen. Immerwald wird so schnell nicht abgeholzt.
Ralf Siepmann