O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Aktuelle Aufführungen

Märchenhafte Narrative

HAPPY EVER AFTER
(Carolin Charlotte Pfänder)

Besuch am
12. Janauar 2022
(Premiere)

 

Theater im Ballsaal, Bonn

Carolin Charlotte Pfänder ist Szenische Forscherin. Der Master-Studiengang Szenische Forschung wurde 2012 am Institut für Theaterwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum gegründet, um nach eigenen Angaben „dem künstlerisch-wissenschaftlichen Nachwuchs in Nordrhein-Westfalen einen Raum zu bieten“. Dabei geht es, vereinfacht ausgedrückt, darum, das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse in theatrale Formen zu bringen. Wie so etwas in der Praxis aussieht, zeigt Pfänder in ihrem neuen Stück Happy Ever After. und wenn sie nicht gestorben sind …, das jetzt im Bonner Theater im Ballsaal erstmals zur Aufführung kommt. Der Anspruch ihres Konzepts ist kein geringerer, als „Fragestellungen zu Blickregimen und Narrativen“ zu erforschen. Dazu will Pfänder am Beispiel dreier Märchen – Rotkäppchen, Dornröschen und Blaubart – sexualisierte Gewalt und Gewalt gegen Frauen untersuchen.

Mara Henni Klimek hat dazu eine Bühne gebaut, die so schön anzuschauen wie allgemeingültig ist. Auf den Hintergrund wird eine Waldlandschaft projiziert. Rechts im Hintergrund sind drei Abendkleider über Podesten aufgehängt. Links davon befinden sich weitere Podeste, über denen eine Projektionsfläche hängt, auf der Einspielungen verschiedener Social-Media-Plattformen zu erleben sind. Darunter auch der Hinweis, wo die Zuschauer weiteres Textmaterial zur Aufführung einsehen können. Davor eine Korsettage, die frei im Raum hängt. Im rechten Vordergrund steht ein Tisch, auf dem man formidabel Obst im Liegen essen kann. Darüber der Balkon des Ballsaals, der in das Spiel einbezogen wird. Für ein ausgewogenes Licht- und Klangdesign sorgt Marcel Reitmayer. Sophia Cecco verantwortet, dass die Videos mit den nötigen Filtern wunsch- und zeitgemäß auf der Projektionsfläche erscheinen.

Alina Rhode – Foto © O-Ton

In diesem Raum können sich Alina Rhode und Anna Möbus frei bewegen. Rhode in Jeans und pinkfarbenem T-Shirt, über das sich ein weißer Gürtel spannt, möglicherweise, um die weiblichen Rundungen zu betonen, Möbus in schwarzem T-Shirt mit der Aufschrift „Powergirl“ und dem Rotkäppchen in Form einer roten Wollmütze. Beide sind bestens aufgelegt und ausgeprobt. Es macht Spaß, ihnen in ihren Ausführungen, den Playback- und Live-Gesängen zu folgen. Locker-flockig geht es über anderthalb Stunden zur Sache, und das Publikum findet viel Grund zur Freude.

Inhaltlich läuft es weniger glatt. Dornröschen, Rotkäppchen und Blaubart sind Märchen, die Charles Perrault im 17. Jahrhundert erstmals veröffentlicht hat, genauer 1697, und die Gebrüder Grimm haben sie in ihre Kinder- und Hausmärchensammlung 1812 aufgenommen. Blaubart flog nach der ersten Ausgabe übrigens aus der Sammlung. Aus diesen Fantasie-Erzählungen entwickelt Pfänder das Narrativ, dass eine schwache weibliche Person durch einen männlichen Helden gerettet wird und beide glücklich bis an ihr Lebensende leben. Dazu passt Blaubart natürlich nicht, weil hier der Ritter durch Frauenhand sein Leben verliert. Hat das Narrativ wenigstens der beiden erstgenannten nach 200 Jahren immer noch Gültigkeit? Wohl kaum. Im Vordergrund steht doch heute eher das Narrativ, dass der Stärkere den Schwächeren schützt, unabhängig vom Geschlecht. Weil also das Thema nicht trägt, wechselt Pfänder auf Catcalling, einer ausgesprochen unglücklichen Bezeichnung für den Möchtegern-Don-Giovanni, der der jungen Blondine aus dem vorüberfahrenden Handwerker-Fahrzeug hinterherpfeift, für den Geschäftsmann, der der attraktiven Brünetten in der Hotelbar mit einem plumpen Spruch ein Gespräch aufdrängt und so weiter. Wenn es tatsächlich so etwas heute noch außerhalb von alten Filmen gibt, bekommen Männer wohl rasch die passenden Antworten. Und der Stinkefinger ist da wohl das Mindeste im Repertoire moderner Frauen. Gut so.

Anna Möbus – Foto © O-Ton

Pfänder weiß aber die Opferrolle der Frau noch deutlicher aufzuzeigen. Was ist mit den so genannten toxischen Beziehungen? Rasch werden Projektionen eingeworfen, die entsprechende Zahlen und Zitate nennen. Na gut, bei differenzierter Betrachtung fände man vermutlich heraus, dass sich das Gift durchaus gleichmäßig verteilt. Reden wir also über Femizide, da wird doch wirklich deutlich, dass Frauen Opfer sind. Die haben in den letzten Jahren schließlich um nahezu fünf Prozent zugenommen. Ja, das ist schrecklich. Und eine gute Nachricht zugleich. Wenn man hinter die Kulissen schaut und es nicht bei den Zahlen belässt. Dann würde deutlich, unter welch extreme Bedingungen Haushalte in den vergangenen Monaten geraten sind. Und wie veränderte Lebensmodelle plötzlich Männer in existenzielle Bedrängnis bringen, wenn Frauen mit Trennung drohen. Nein, es gibt keine Entschuldigung dafür, dass Menschen sterben, und sei die Situation noch so emotional aufgeladen. Aber es gehörte zu einer differenzierten Betrachtung, um zu anderen Lösungen zu kommen. Szenische Forschung als „wissenschaftliche Erkenntnisse“ in Form von Zahlen und Statistiken, die auf die Bühne gebracht werden, erscheint da zu wenig.

Dem Publikum gefällt, was es an „Zahlen und Fakten“ geliefert bekommt – oder sind es doch eher die Leistungen der beiden Darstellerinnen, die so galant durch den Abend führen? Wer sich davon selbst überzeugen will, kann in der kommenden Woche die Aufführung noch einmal im Forum Freies Theater in Düsseldorf erleben.

Michael S. Zerban