O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Thilo Beu

Aktuelle Aufführungen

Der Bandit auf dem Thron

ERNANI
(Giuseppe Verdi)

Besuch am
18. April 2022
(Premiere am 10. April 2022)

 

Theater Bonn, Opernhaus

Intendo, intendo. Compiasi il mio destin fatale. Der Bandit Ernani, eigentlich ein verstoßener Aristokrat, erlebt mit den drei Hornstößen aus der Ferne die Besiegelung seines Schicksals. Das Zeichen, das er seinem Gegenspieler in einem bizarren Pakt wider den gemeinsamen Feind, den spanischen König, verpfändet hat, führt ausgerechnet in seiner Hochzeitsnacht mit Elvira sein Ende herbei. Ernani ist zwar ein schuldlos aus der Bahn geworfener Außenseiter. Doch kein klassischer Räuber. Er steht zu seinem Schwur. Rache, Intrige, Mordkomplott, Belagerung und Krieg sind in Verdis fünfter Oper ein beliebtes Sujet. Bietet es doch eine willkommene Kulisse für ein Musikdrama con affetto, wie jetzt in Bonn zu besichtigen ist.

In diesen Tagen, in der achten Woche nach dem Überfall der Armee Putins auf die Ukraine, muss sich jeder Opernabend atmosphärisch gegen eine latente Stimmung behaupten, die durch die Schreckensbilder von getöteten Soldaten und ermordeten Zivilisten bestimmt wird. In der zweiten Aufführung nach der Premiere von Roland Schwabs Neuinszenierung von Ernani am Theater Bonn gelingt das offenkundig. So schaurig und streckenweise verworren Francesco Maria Piaves Dramma lirico nach Hernani ou l´honneur Castillan, dem Schauspiel von Victor Hugo, erscheinen mag, so sehr versöhnt Verdis vor Leidenschaft berstende Musik.

Das Werk glänzt mit Verdis speziellem Musikstil am Ende der Ära des Belcantos und im Aufdämmern der Grand opéra. Der zum Zeitpunkt der Komposition 30-jährige setzt auf Rhythmus, Melodie, gewaltige Chorsätze und intensive Cabaletta-Sequenzen, in denen das furiose stets dem moderaten Tempo folgt. Nahezu perfekt die Vernetzung von Soli- und Chorpassagen. 150 Minuten Opernkinoklang, der noch haften bleibt, wenn Ranküne und Gewalt schon lange verrauscht sind.

Das Theater Bonn hat 2014 einen Zyklus mit frühen Opern des Meisters von Sant‘Agata gestartet. Giovanna d’Arco, Attila, I due Foscari und zuletzt Les Vèspres Siciliennes sind Produktionen aus diesem Zyklus, die in Erinnerung bleiben. Ob die 1855 für Paris komponierte Freiheitsoper um die Erhebung der Sizilianer gegen die französischen Besatzer dieser Serie zuzuordnen ist, kann eine offene Frage bleiben. Ihren Wert erfahren diese Produktionen insbesondere deswegen, weil sie nicht lediglich verkürzt als Material auf dem Weg zur Erfolgstrias Rigoletto, La Traviata, Il Trovatore empfunden werden. Sie sind eigenständige Werke in Verdis hochromantischer Phase zwischen 1844 und 1850.

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Nun also Ernani, 1844 in Venedig bezeichnenderweise nach dem Karneval uraufgeführt. Ein Kriegs- und Seelendrama, das 1519 in Aragonien und in der Kaisergruft im Aachener Dom spielt. Eine Schauergeschichte, in der ein gewisser Don Carlos, König von Spanien, um die Liebe zu Elvira kämpft und zum Kaiser gewählt wird. Jener Carlos, der gerade in der Bonner Serie von Aufführungen der Verdi-Oper Don Carlo als Karl V. in das Geschehen eingreift.

Ernani, Juan d’Aragon, Sohn des von Don Carlos getöteten Herzogs von Aragonien, kehrt aus der Verbannung zurück und lebt als Bandit mit Gleichgesinnten in den Wäldern. Er verliebt sich in Elvira, Nichte des spanischen Granden Don Ruy Gomez de Silva, der sie gegen ihren Willen heiraten will. Auch Don Carlos begehrt Elvira zu seiner Frau. Irgendwie realitätsfremd, aber große Oper, dass eine Frau gleich von drei Männern umworben wird. Zum Glück repräsentieren sie als Tenor, Bariton und Bass die drei Männerstimmen, auf die Verdi auch bei seinen künftigen Kompositionen bauen wird.

Ernani und Silva verbünden sich gegen den König, was der spanische Grande an eine Bedingung knüpft. Der Rebell muss für dessen Entgegenkommen bezahlen und jederzeit zu sterben gewillt sein, wenn dieser es verlangt. Als das Komplott gegen Carlos aufgedeckt wird, verhindert allein Elviras Flehen die Bestrafung Ernanis. Elvira und Ernani werden zum Paar. Nach einem fröhlichen Fest in der Hochzeitsnacht fordert Silva Ernanis Tod, der sich daraufhin ersticht. Elvira wird ohnmächtig. Ende offen.

Verdi erkennt mit der Intuition des geborenen Bühnendramatikers die großen Effekte, die der Stoff zur Realisierung seiner Vorstellung von Oper bietet und beeinflusst Piaves Libretto maßgeblich. Ernani macht ihn erstmals über Italiens Grenzen hinaus bekannt. Die Wiener Erstaufführung dirigiert Gaetano Donizetti.

Regisseur Schwab lässt die vier Akte in einem schräg gestellten, drehbaren Kubus spielen, den Alfred Peters in Tuchfühlung mit der großartigen Lichttechnik Boris Kahnerts ersonnen hat. Er dient den Schauplätzen des ersten und des zweiten Akts, Wald und Kastell des Silva, als plastische Kulisse, die links und rechts den Blick auf die reale Bühnentechnik des Bonner Theaters freigeben. Im dritten Akt wird es regelrecht imposant. Aus der Aachener Kaisergruft fährt die von Hubtechnik angetriebene Bühne den Chor in die Höhe, was noch durch die Nachbildung des Throns Karls V. im Aachener Dom übertroffen wird, auf dem sich der Herrscher selbst zum Kaiser des Heiligen Römischen Reichs krönt. Es ist der einzige Moment, in dem der Purpur des Regenten neben dem weißen Kleid Elviras die schwarzen Kostüme Renée Listerdals durchbricht, die ansonsten die Düsternis des Geschehens unterstreichen.

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Der Regisseur ist mit einer rustikalen Inszenierung von Bellinis La Somnambula 2011 in den Annalen der Oper Bonn verzeichnet. In seiner jüngsten Arbeit konzentriert er sich vor allem auf den spanischen König. Das Narrativ, das er entwickelt, unterscheidet sich deutlich von der vorherrschenden Erzählung über ihn. Schwabs König ist nicht der charismatische, weise Herrscher in den Geschichtsbüchern, sondern schlicht ein Schurke. Der wahre Bandit, um an Piaves Charakterisierungen anzuknüpfen. Schwabs König hat kein Problem, Elvira und ihre Mägde wie ein Grobian zu bedrängen. Eigenhändig erschießt er Gefolgsleute Silvas. Auch macht er Anstalten, den spanischen Granden mit Benzin zu übergießen und auf ihn zum Schein das Zündholz zu werfen. So verwundert es nicht, dass Ernani in ihm den Mörder seines Vaters entdeckt.

Erst durch seine Wahl zum Kaiser wandelt sich dieser Charakter. Er übt Gnade gegenüber jedermann, auch gegenüber dem Rebellen, und gibt sein Einverständnis zur Vermählung Ernanis mit Elvira. In Schwabs Konzeption ist das lediglich eine opportunistische Geste. Falsch wie die Clemenza des Tito in Mozarts Oper, gut 50 Jahre zuvor. Ein Sinneswandel im Dienst der Staatsraison.

Deutlich unbestimmter ist Schwabs Personenregie bei den übrigen Protagonisten. Nun gut, Silva, Vormund und Onkel Elviras, ist ein alter Mann. Ob es aber notwendig sein muss, ihn mit Gehstock und fast schon hinfällig beim Niederklettern auf einer Treppe zu zeigen, darf zumindest offenbleiben. Die angestrebte Heirat mit Elvira entzieht sich so fast jeglicher Vorstellungskraft. Dagegen schenkt der Regisseur dem Titelhelden Momente der Virilität. Das beginnt schon mit dem populären Auftrittschor der Rebellen Evviva! beviam! mit hoch gestreckten Gewehren, die ihren Anführer hochleben lassen. Streckenweise unglücklich geht es zu, wenn an Elvira, immerhin die Nichte eines Granden, ständig herumgerissen wird. Auch ihre Mägde lassen an Respekt ihr gegenüber zu wünschen übrig. Die Hochzeitsvorbereitung Elviras ist ein Desaster. Lieblos wird ihr der Brautschleier auf das Haupt gepresst, der ganze Körper in ein Schaukeln gebracht.

Verdis Partitur verlangt eine rauschende orchestrale Grundierung, die das Ganze in ein musikalisches Arkadien der Nach-Belcanto-Ära erheben. Das Beethoven-Orchester Bonn, im dritten Akt mit einer Bläser-Fraktion auch auf der Bühne präsent, erfüllt unter der musikalischen Leitung des Verdi-versierten Will Humburg diesen Anspruch famos. Dass die Oper von Akt zu Akt, vor allem im vierten Aufzug an musikalischer Klasse verliert, ist ihm wahrlich nicht anzukreiden. Einmal mehr liefern Chor und Extrachor des Theaters Bonn, einstudiert von Marco Medved, eine bravouröse Leistung. Nicht nur im weinseligen von packendem Rhythmus getragenen Auftritt unmittelbar nach dem Preludio des Orchesters. Ganz besonders mit Si ridesti il Leon di Castiglia im dritten Akt, der Huldigung Ernanis.

Im Quartett der Hauptpartien gibt es viel Qualität, jede Menge Verdi-Spirit, aber dank eines weitgehend unnatürlichen Vibrato bei den Sängerdarstellern von Elvira und Don Carlo ein phasenweise eingeschränktes Vergnügen. Der Tenor George Oniani, einst Mitglied des Bonner Ensembles, überzeugt als Ernani mit strahlendem Timbre und metallischer Höhe. Mit seiner Dell‘esilio nel dolore gleich von Beginn an. Der Bariton Federico Longhi, Gast in der Rolle des Don Carlo, gibt die Charaktermaske des Königs mit darstellerischer Präsenz und vokaler Intensität. Bestechend agiert der Bass Pavel Kudinov, der die ihm im Spiel abverlangte Gebrechlichkeit des Alters durch vokale Kraft, Brillanz und Nuancenreichtum glatt vergessen lässt.

Yannick-Muriel Noah, als Kriegerin und Rächerin Odabella in Attila bestens in Erinnerung, ist eine Elvira mit viel Licht und etwas Schatten. Sie beherrscht alle technischen Finessen zwischen dramatischen Gipfelstürmen und lyrischer Innerlichkeit. Beeindruckend, wie sie in Ernani Ernani involami Verdis disruptive Tonsprünge meistert. Hingegen mäandert ihre Stimme häufig im tiefen Brustregister, was auch die exakte Tonfokussierung tangiert. Die Rolle der Giovanna, Vertraute Elviras, gestaltet Ingrid Bartz mit Würde. Positive Überraschungen sind Tae-Hwan Yun als Schildträger des Königs und Michael Krinner als Jago, Schildträger des Silva. Langanhaltender, vereinzelt mit Bravi-Rufen durchsetzter Beifall dankt allen Mitwirkenden für ihr Engagement.

Zum Schluss – kein lieto fine – setzt sich also die Macht durch. Der Rebell, der eigentlich keiner ist, beweist seine Treue und hält sein Versprechen. Den Preis für die Gewalt der Männergesellschaft zahlt Elvira, in Musik und Text die Verkörperung der Schönheit, der Liebesbereitschaft, des Weiblichen an sich. Wenn das keine Parallele zu dem ist, was uns alle gegenwärtig beschäftigt.

Ralf Siepmann