O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Thilo Beu

Aktuelle Aufführungen

Verführt und verfehlt

DON CARLO
(Giuseppe Verdi)

Besuch am
22. Januar 2022
(Premiere am 12. Dezember 2021)

 

Theater Bonn, Opernhaus

A voluttà nuova per me é l’alma abbondonata. Im „französischen“ Akt in der fünf Aufzüge umfassenden Oper Don Carlo, ursprünglich von Giuseppe Verdi für Paris 1867 verfasst, beteuert Elisabeth von Valois so ihre Liebe zu Carlo, dem Thronerben Philipps II. von Spanien. Vorher nie empfundene Freude gibt meiner Seele neues Leben. Seit dem 9. Januar müssen Besucher von Aufführungen des Don Carlo im Theater Bonn auf diese Passage wie den gesamten Fontainebleau-Akt verzichten. Corona-bedingt hat sich die Leitung der Bonner Oper für eine vieraktige Version entschieden, um somit die Reduktion der Spieldauer auf knapp 200 Minuten sowie die Verkürzung der Pausen auf eine zu erreichen.

Elisabettas Treueschwur scheint auch über der Pandemie-geprägten Aufführung zu schweben. „Neues Leben“ erfüllt einen Opernabend, der die tief verankerte Sehnsucht vieler nach der Kunst der Oper spüren lässt. Das Publikum im bis auf einige Lücken in Parkett und Rängen ausgelasteten Haus am Rhein wirkt wie ein kollektives Bekenntnis zur Sinnhaftigkeit der Maßnahmen, die zur Eindämmung und Überwindung des Virus beitragen sollen. Man vertraut und hadert nicht. Geordnet und diszipliniert verlaufen die Kontrollen am Eingang. Ohne den verlangten Mund-Nasen-Schutz ist niemand anzutreffen. Selbst die freiwillig eingenommen Abstände der Wartenden vor der Herren-Toilette, die glatt eine halbe Treppe hoch in Richtung Parkett reichen, funktionieren problemlos.

Unmittelbar bevor der Chor der Mönche zu satten Streicherklängen das Geschehen im Kloster von San Juste eröffnet, unterstreicht Intendant Bernhard Helmich vor offenem Bühnenvorhang das „Glück“, diese wie jede weitere Aufführung unter Pandemie-Vorzeichen ausrichten zu können. Angesichts der Risiken für die Künstler und der begrenzten Kapazitäten in den Testlaboren bedeute jeder Theaterabend ein Risiko. Wie zum Beweis gibt Helmich Corona-bedingt die Reduzierung der „Flötengruppe“ um eine Flötistin auf eine bekannt. Der Hinweis löst lebhaften Beifall auf. Schönere Vorschusslorbeeren sind kaum vorstellbar.

Das Theater Bonn hat sich in den letzten Jahren mit der Aufführung von Frühwerken Verdis von Attila über Giovanna d’Arco bis I due Foscari etliche Meriten in der Branche erworben. Die Entscheidung, die Inszenierung des Dramas um säkulare und klerikale Autorität, Macht und Grenzen im Absolutismus, Einsamkeit, Liebe, Hass und Eifersucht mit dem Libretto von Joseph Méry und Camille du Locle nach Schillers Tragödie in der italienischen Fassung von Achille de Lauzières und Angelo Zanardini dem Regisseur Mark Daniel Hirsch anzuvertrauen, erweist sich leider als Fehlgriff.

Hirsch verdankt das Haus am Boeselagerhof durchaus gelungene Produktionen. Erinnert sei an Dvoraks Rusalka und Puccinis Madama Butterfly. Mit einer uninspirierten Auffassung von Verdis Musikdrama und seinen Protagonisten sowie einem absurden Eingriff in die Dramaturgie des Finales, von der Peripherie der Aufführungspraxis adaptiert, liefert der Regisseur ein Musterexemplar einer misslungenen Stückaneignung ab. Es dürfte sich weder unter dem Rubrum des „Regietheaters“ noch der versuchten Annäherung einer „Werktreue“ subsumieren lassen.

Hätte Don Carlos nicht per se die Aura eines Monuments unter den Opern des 19. Jahrhunderts, wäre die Hirsch-Inszenierung wenig geeignet, unter den Besuchern dieser Aufführung Neugier auf ein unter die Haut gehendes Spektakel zu wecken. Erst recht nicht unter Newcomern der Oper, die es ja in jeder Aufführung gibt. Die Ausstattung, die Helmut Stürmer inklusive der Kostüme für die Inszenierung ersonnen hat, ist passabel. Aber auch nicht mehr. Zentrale Spielstätte ist das Kloster San Juste bei Madrid mit den Aufgängen links und rechts neben der vorgelagerten Kapelle. Sie lässt sich mit dem Fortgang der Handlung in ein Gefängnis oder den großen Platz vor dem Palast des Königs verwandeln.

Ein Blickfang ist der Sarkophag von Karl V. vor dem Kirchenportal, der auf die Akteure wie ein Magnet zu wirken vermag. Hier treffen sich die jungen Liebenden und am Ende alle Protagonisten zum finalen Showdown. Max Karbes Lichtregie erzeugt ein düsteres Halbdunkel, in das lediglich das Rot des Autodafés, der Flammen von den Scheiterhaufen, und die helle Stimmung des Festes in den Gärten der Königin einbrechen. Das Drama spielt um 1560 in Spanien. Die Kostüme folgen dieser Vorgabe freilich nicht konsequent, sind zum Teil beliebig. Strohhüte, die eifrig zum Takt der Musik hin und her bewegt werden, sollen wohl den Eindruck einer Volksnähe suggerieren. Es entsteht jedoch der Eindruck einer schiefen, also vorgetäuschten Heiterkeit. Dabei imponiert der von Marco Medved einstudierte Chor mit gesanglicher Präzision und der Wucht aller Stimmgruppen.

Lächerlich das Gequirle mit den „Damen des spanischen Hofes“ rund um das maurische Lied vom Schleier, der angeblich die Liebe schützt. Dshamilja Kaiser in der Rolle der Prinzessin Eboli intoniert es mit Verve, hat aber mit ihrer äußerlichen Aufmachung in der Szene die erste von mehreren unglücklichen Auftritten. Diese Eboli ist nicht die Schönheit pur, die das Stück ihr auf den Leib schreibt. Vielmehr agiert sie wie eine affektierte Schulaufseherin in einem Schauerroman aus der Zeit von Queen Victoria. Die Videoeinspielungen Ruth Stofers ordnen sich letztlich in den bescheidenen Rahmen ein. Bei Philipps Solo Ella giammau m’amò erscheint die Einblendung banal und letztlich störend.

Foto © Thilo Beu

Hirsch, möchte man meinen, vertraut der emotionalen Kraft und der Wucht der Vorlage, was prinzipiell keine schlechte Idee wäre. Verzichtet offenbar auf künstliche, eher störende Weiterungen des Stücks von der Art, mit der Vera Nemirova im November ihre Sicht auf Don Carlo in Dresden angegangen ist. In der Semperoper leitet eine Ballettszene mit Videoprojektionen zu einem Klangpanorama die Inszenierung ein, für das Manfred Trojahn eigens die Musik komponiert hat. Doch die freudige Erwartung in die Bonner Inszenierung geht ins Leere.

Zu Verdis bestechendsten Einfällen gehört das Finale des fünften respektive vierten Akts. Der Fokus ist da auf den Infanten gerichtet, im aussichtslosen Sehnen zu Elisabetta verfangen. Bedrängt vom König und dem Großinquisitor, den Tod oder das Gefängnis vor Augen, wird er von dem Wesen, das als Ein Mönch und eine Vision Karls V. – nicht zuletzt durch eine mystische Stimme – charakterisiert ist, in das Innere des Klosters gezogen.

Hirsch greift auf eine historisch unzutreffende und dramaturgisch groteske Version unter ferner liefen zurück, in der sich Carlo mit einem Dolch ersticht, um in den Armen der Geliebten zu sterben. Ausgerechnet der haltlose, zum entschlossenen Handeln unfähige Jüngling, nach historischen Zeugnissen ein körperlich, geistig und seelisch beeinträchtigter dekadenter Mensch, soll den Mut aufbringen, seinem Leben durch eigene Hand ein Ende zu setzen? Wer an dieser Stelle von Kunstfreiheit redet, hat von der wirklichen Freiheit der Kunst nichts verstanden. Von der Freiheit, die Kunstwerke wie Verdis Don Carlo erst möglich machen und die es in ihrem Wesensgehalt zu respektieren gilt.

Unter den angesprochenen Corona-Bedingungen einen Don Carlo musikalisch auf die Bühnenbretter zu hieven, ist ein elementar forderndes Unterfangen. Das Sängerensemble bringt dieses ganz überwiegend zu Wege. Dabei korrespondieren die von der filigranen Partitur mit ihren bruchlosen Übergängen von rezitativen und ariosen Passagen geforderten Männer- und Frauenstimmen vorzüglich. Exemplarisch hervorgehoben sei das Quartett Ah! sil maledetto, sospetto, das Filippo, Eboli, Rodrigo und Elisabetta zusammenbringt, wobei jede einzelne Stimme ihrer geistigen Spur folgt, ohne die anderen zu dominieren.

Als Filippo II ist Tobias Schabel mit profundem Bass eine aristokratische Erscheinung, der Karl-Heinz Lehner als Großinquisitor auf seine Weise in nichts nachsteht. Es berührt tief, wenn der Antipode der säkularen Macht zu den Klängen der tiefen Streichinstrumente im Rollstuhl die musikalisch effektvolle Konfrontation mit dem König sucht. Sein Forse!, sein Verlangen nach Gehorsam, hallt noch lange nach.

Santiago Sánchez gibt den Carlo mit tenoraler Wucht, die insbesondere im vokalen Aufstieg zur metallischen Höhe imponiert. Verdis Favoriten in diesem Stück, der in Schillers Tragödie nicht existiert, den Malteserritter Rodrigo, Graf von Posa, gestaltet Giorgos Kanaris mit raumgreifender baritonaler Präsenz und couragiertem Auftreten. Das passt zu dem Wesen des spanischen Granden und seinem Mut, als freier Mensch mit eigenen Ansichten dem Herrscher über Spanien unerschrocken gegenüberzutreten. Leider fehlt Kanaris der zweite vokale Pol des Rodrigo, die samtene Empathie. Dio, che nell`allma infondere, das Freiheitsduett mit Carlo, adelt ungeachtet dessen beide mit Glanz und Gloria.

Anna Princeva ist mit Verdi-affiner Tessitura eine imposante Elisabetta von Valois, deren Performance sich trotz manch spröder Rauheit unterwegs bis in ihre finale Arie Tu che la vanità steigert. Dshamilja Kaiser geht die Rolle der Prinzessin Eboli mit Glut und Mut zur Entäußerung an. Im Bravourstück aller Verdi-Mezzosoprane O don fatale, o don crudel wirft sie die eigentliche DNA der Eboli in die Waagschale, Eifersucht und zerstörerische Selbstliebe bei gleichzeitiger charismatischer Aufwallung. In den weiteren Rollen runden Magnus Piontek als Mönch, Lada Bočková als Tebaldo, Helena Baur als Gräfin von Aremberg sowie Katleho Mokhoabane als Graf von Lerma und ein königlicher Herold  den Gesamteindruck passabel ab. Sarah Vautour ist in der Interpretation der Stimme aus der Höhe eine wohlig-schaurige Offenbarung.

Die musikalische Gesamtleitung von Verdis Spätwerk im Übergang von der Grand Opéra zum Musikdrama liegt bei Hermes Helfricht, dem Ersten Kapellmeister des Beethoven-Orchesters Bonn, in den besten Händen. Famos das Blech. Überwältigend die Celli und Kontrabässe, die den Männerdialogen ihre kraftvolle Grundierung verleihen. So fallen dann manche nicht ganz geglückte Koordinationen zwischen Bühne und Graben sowie die eine oder andere Tutti-Passage, gegen die die Solisten nicht immer ankommen, nicht wirklich ins Gewicht

Der anhaltende starke Schlussbeifall des Publikums lässt sich nur als Ausdruck von höchster Anerkennung für alle Beteiligten deuten. Die Spur gelöster Genugtuung über ein den Widrigkeiten des Alltags abgetrotztes verführerisches Erlebnis ist dabei unüberhörbar.

Ralf Siepmann