O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Thilo Beu

Aktuelle Aufführungen

Der Stein im Wasser

Zu den gesellschaftspolitischen Schlüsselthemen unserer Gegenwart mit wachsendem Rassismus und Rechtsextremismus gehört es, Sensibilität gegenüber Diskriminierung und Ausgrenzung sowie Empathie für Minderheiten zu schaffen. Dieser Prozess, meinen Experten, sollte möglichst schon im Kindesalter beginnen. Wie eine wirkungsvolle, im Idealfall nachhaltige Sensibilisierung gelingen könnte, zeigt aktuell das Brundibár-Projekt der Bonner Oper. Projekt auch deswegen, weil es mit dem bloßen Besuch der vor allem für junge Menschen ab zehn Jahren gedachten Kinderoper des Komponisten Hans Krása und seines Librettisten Adolf Hoffmeister nicht getan sein kann. Vielmehr dürfte sie nachhaltige Wirkungen insbesondere dann erzeugen, wenn ihr Besuch jeweils in eine Vor- und Nachbereitungsphase der Kinder mit Elternhaus und Schule eingebunden ist. Gefordert ist das kind- wie themengerechte Reden über Verführung und Verbrechen, was auch Jahrzehnte nach der Befreiung von Auschwitz zum Schwierigsten zwischen den Generationen zählt.

POINTS OF HONOR

Musik



Gesang



Regie



Bühne



Publikum



Chat-Faktor



Die in den letzten Jahren an einer Reihe von Theatern – so 2017 am Staatstheater Kassel – herausgebrachte Geschichte von der Überwindung des Bösen durch menschliche Solidarität ist alles andere als eine typische Kinderoper. Ihre Vorgeschichte, das Schicksal von Autor und Komponist weisen im Tempo eines Hochgeschwindigkeitsfahrstuhls zurück in die Jahre der Verfolgung, Deportation und Ermordung der Juden durch das nationalsozialistische Regime. Brundibár, 1938 komponiert, erstmals 1942 im jüdischen Kinderheim in Prag aufgeführt, erlebt nach Krásas Deportation in das Konzentrationslager Theresienstadt ab 1943 dort 55 Aufführungen. Den Kindern vermittelt der scheinbar normale Theaterbetrieb einen Hauch von Alltäglichkeit und Freude am Leben. Andererseits registrieren sie regelmäßig, dass Rollen neu besetzt werden müssen, da viele der jungen Darsteller in Vernichtungslager abtransportiert werden. Auschwitz ist dann auch die letzte Lebensetappe Krásas und fast aller Akteure.

Die von Kindern für Kinder präsentierte Handlung mit dem Geschwisterpaar Aninka und Pepíček im Zentrum spielt, weil Zusammenhalt keine geografischen Grenzen kennt, in einer beliebigen kleinen Stadt mit Schule, Molkerei und Bäckerei. Kindliche Attraktionen sind die Stände des Eismanns und des Leiermanns Brundibár. Aninka und Pepíček sind zum Markt gekommen, um für ihre kranke Mutter Milch zu besorgen. Da sie arm und mittellos sind, droht ihre Absicht zu scheitern. Erst als sie gewahr werden, wie der Spieler des Leierkastens zu Geld kommt, finden sie einen Weg aus der Not. Unterstützt von einem Spatz, einer Katze und einem Hund, die alle Kinder der Stadt mobilisieren, schlagen sie Brundibár mit seinen eigenen Mitteln.

Foto © Thilo Beu

Der Regisseur Mark Daniel Hirsch inszeniert eine für das Theater Bonn konzipierte deutsche Fassung, mit dem Monolog Überleben im Zentrum. Die Rahmenerzählung zur Geschichte der Oper stammt von der Autorin Lisa Sommerfeldt, in der der Holocaust auch für Bonn plastisch und mit erschütternden Zahlen untermauert wird. Gesprochen wird der fiktive Monolog der überlebenden Bonner Jüdin Vera Wilhelmine Goldstein von der äußerst engagierten und präsenten Schauspielerin  Barbara Teuber, die von Anfang bis Ende der Produktion auf der Bühne präsent ist und so eine Art Klammer zwischen gestern und heute, dort und hier darstellt.

Die auf das extra bestuhlte Foyer der Bonner Oper zugeschnittene Produktion hält sich hinsichtlich des Aufwands für Bühne und Kostüme von Regina Rösing ziemlich zurück, was der Sache selbst allerdings keinerlei Abbruch tut. Zu sehen ist auf einem simplen Bretterpodium ein Ensemble des Kinder- und Jugendchors des Theaters Bonn, dessen weitgehend graue Kostümierung an das Erscheinungsbild der Inhaftierten in Theresienstadt erinnert. Links davon ist das elf Musikerinnen und Musiker umfassende Orchester postiert. Krásas anspruchsvolle, immer wieder lautmalende Partitur ist bei ihnen in den besten Händen. Koordiniert und inspiriert wird das Ganze souverän von der musikalischen Leiterin Ekaterina Klewitz, die seit mehr als zehn Jahren für den Kinder- und Jugendchor des Theaters Bonn verantwortlich zeichnet, der ein Vierteljahrhundert existiert. Wie die Dirigentin agiert, ständig den Blick im Wechsel auf das Orchester und via zweier entfernter Monitore das Chorensemble gerichtet, ist schon imposant.

Die Akteure im rund ein Dutzend Rollen umfassenden Ensemble überzeugen mit großem Engagement, das je nach Part und Alter zwischen kindlicher Spielfreude und großer Ernsthaftigkeit pendelt. Unter den Protagonisten nehmen die drei Hauptfiguren Susanne Karolina Kilian als Aninka, Klaus Essler in der Rolle des Pepicek und Brundibár, von Maxim Yurin dargestellt, durch Spiel und Gesang ganz besonders für sich ein. Ihnen zur Seite springt mit viel Vitalität ein Trio, das zudem allerlei Kolorit in die düstere Geschichte einbringt. Es sind Spatz Louis Bungartz, Katze Hannah Schiller und Hund Merle Claus. Gegen eine solche Armada, das wird alsbald klar, hat der böse Leierkastenspieler letztlich keine Chance. Im Schlussbild liegen alle Akteure wie versteinert am Boden. Der Spuk ist vorbei. Vielleicht auch das Leben alsbald dieses oder jenes Kindes? Diese Assoziation wird durch das anschwellende Geräusch von Eisenbahnzügen hervorgerufen. Bedrohlich provoziert es die Vorstellung der Transporte „in den Osten“, womit die Todeskammer von Auschwitz gemeint ist.

Kinderoper ist in Bonn und anderswo finanziell kein Selbstläufer. MusiKi, Musikalisches Kindertheater Bonn, heißt in der Bundesstadt das Netzwerk, das das Brundibár-Projekt durch organisatorische, logistische und eben materielle Unterstützung mitermöglicht hat. Es kommt ja entscheidend auf Anstrengungen insbesondere nach jeder Aufführung an, die Wellen zu nutzen, die mit jedem Stein entstehen, der im Theater ins Wasser geworfen wird. Die Botschaft von Solidarität und Zusammenhalt ist schlicht einfacher proklamiert als im Alltag durchgehalten, erst recht gegen Widerstände. Angesichts dieser herausragenden Zielsetzung mag die eigentliche Intention von MusiKi, „das Wecken von Interesse und Begeisterung an klassischer und moderner Musik“, auch einmal auf Zeit zurücktreten. Aus dem Anfangserlebnis kann ja immer noch die Liebe zur Kunst der Oper erwachsen, früher oder später.

Ralf Siepmann