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Roboter lernen lieben

BODY SHOTS
(Rafaële Giovanola)

Gesehen am
12. März 2021
(Uraufführung/Live-Stream)

 

Theater im Ballsaal, Bonn

Da macht sich eine Choreografin so richtig viel Gedanken, entwirft gleich eine ganze Serie von Produktionen, bei denen sie sich beispielsweise mit dem Körper und seinem Verhältnis zur Bewegung unter allen möglichen Aspekten beschäftigen will. Und dann trifft eine Produktion auf einen unerwarteten gesellschaftlichen Wandel und wird vom Zuschauer plötzlich vollkommen anders rezipiert, als es ursprünglich gedacht war. Das dürfte dann sowohl für die Choreografin als auch für den Zuschauer eine ungewöhnliche Erfahrung sein. Ob sie denn als angenehm, gruselig oder gar unpassend empfunden wird, hat in dem Moment niemand mehr in der Hand.

Seit exakt einem Jahr wird in Deutschland etwas praktiziert, was sich wohl auch ein Grusel-Science-Fiction-Autor nicht hätte ausmalen können. Selbst die düstersten Utopien, die wir aus der Literatur kennen, werden gerade von der Wirklichkeit überholt. Lautstark wurde von der Regierung verkündet, dass Überleben in Deutschland nur möglich sei, wenn sich menschliche Körper voneinander möglichst fernhalten, also so etwas wie ein body distancing. War es ein Freudscher Versprecher, oder das, was die Regierung tatsächlich wollte? Wir wissen es nicht, aber es wurde ein social distancing daraus. Und das betrifft, wie Sprachkenner wissen, eben nicht nur einen körperlichen Abstand, um die Übertragung eines Virus zu verhindern, sondern gleich den Abbruch sozialer Beziehungen. Und die Regierung, wir wissen das heute, machte und macht Ernst mit diesem Begriff. Kulturelle Einrichtungen sind bis heute wider besseres Wissen für den Publikumsverkehr geschlossen, Orte der Kommunikation sind tabu für „Normalmenschen“. Dass Politiker einer Elite angehören, für die das nicht gilt, wissen wir heute ebenfalls, aber das spielt hier keine Rolle und ist ja in verschiedenen Sci-Fi-Romanen auch schon nachzulesen.

In diesem grotesken Kontext präsentiert Choreografin Rafaële Giovanola die neueste Arbeit von Cocoon Dance. In Body Shots soll es eigentlich darum gehen, Körper zu dekonstruieren, sie zu entseelen und den Menschen zum Zwischending zwischen Zombie und Roboter zu entwickeln, um dessen Bewegungsmuster zu erforschen.

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Im Theater im Ballsaal in Bonn ist die Bühne angerichtet, um die Online-Uraufführung zu zeigen. Michael Maurissens und Mauritz Böttger haben die Aufgabe, die Bilder auf YouTube zu übertragen, was ihnen zu großen Teilen gut gelingt. Ein paar Ultra-Nahaufnahmen, deren Motivation sich nicht erschließt, sind ebenso unbedeutend wie die Unschärfen, die gerade im ersten Teil wohl am ehesten auf Fokusentgleisungen zurückzuführen sind. Im Weiteren überzeugt eine einwandfreie und das Tanzgeschehen erfassende Kameraführung. Eine weiße Tanzfläche, über der ein weißes Trapez in schwarzem Rahmen aufgespannt ist. Marino Frankola lässt oberhalb dieses Himmels die Weißlichter dezent und zurückhaltend spielen, ohne die Tänzer in unnötiges Dunkel zu tauchen. Petra Dančević kleidet die Tänzer dankenswerterweise nicht in unförmige Jogging-Anzüge, sondern lässt sie in weißen, mit grau abgesetzten Overalls auftreten, in denen von ihren Körpern auch etwas zu erkennen ist. Eine Seltenheit in den letzten Monaten, für die man als Zuschauer fast schon dankbar sein darf.

Fa-Hsuan Chen, Martina De Dominicis, Álvaro Esteban, Marin Lemić und Eleonora Vrdoljak treffen sich im hinteren Viertel der Bühne, um sich in Zeitlupe voneinander wegzubewegen. Die Gemeinschaft nicht Wissender bricht auf. Nach einer Viertelstunde liegen sie ausgestreckt im Kreis, finden erste Berührungen, aber es bleibt bei den roboterhaften Bewegungen. Der Kreis wird im Sitzen zur Kette. Aber egal, wohin man blickt, die Augen der Akteure gehen ins Leere, starr und ins Unendliche gerichtet. Nach erneuter Agglomeration erhöht sich die Geschwindigkeit, ehe die Tänzer wieder zum Liegen kommen. Das tänzerische Strampeln im Liegen erzeugt schon beim Zuschauen Muskelkater, so anstrengend ist das. Abermals bildet sich ein Kreis, der in konvulsivischen Zuckungen auseinanderbricht. Als die Tänzer wieder zusammenfinden, bleibt eine Tänzerin außen vor liegen. Als die Gruppe in Sitzbewegungen zurückfindet, entsteht der hoffnungsvolle Moment des Abends. Die vier Tänzer versammeln sich um die Liegengebliebene. Auch bei Robotern, Zombies oder uns Menschen in der derzeitigen Situation bleibt so etwas wie Solidarität. Da möchte man fast von Glück reden.

Komponist Jörg Ritzenhoff unterstützt das Geschehen in altbewährter Zusammenarbeit lautmalerisch. Viele der Geräusche, die in sphärische Klänge eingebettet sind, erinnern an schlechtes Wetter. Immer aber bleibt der Geräuschpegel niedrig, ist zwischendurch so leise, dass er mehr unterbewusst wahrgenommen als wirklich gehört wird und unterstützt so die unwirkliche, wenn nicht gespenstische Atmosphäre.

Als das Licht nach rund einer Dreiviertelstunde erlischt, bleibt man erst mal einen Moment gebannt vor dem schwarzen Bildschirm sitzen, ehe so etwas wie Ermattung eintritt.

Am 13. März gibt es den Stream noch einmal hier zu sehen.

Michael S. Zerban