O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Sven Lorenz

Aktuelle Aufführungen

Pianistische Glanzlichter

KLAVIER-FESTIVAL RUHR 2021
(Diverse Komponisten)

Besuch am
24., 25. und 28. Juni 2021
(Einmalige Aufführungen)

 

Klavier-Festival Ruhr in Bochum, Dortmund und Wuppertal

Einen Großteil der Konzerte des Klavier-Festivals Ruhr, die im Frühjahr der Pandemie zum Opfer gefallen sind, holt Intendant Franz Xaver Ohnesorg in den kommenden Wochen und Monaten nach. Dabei kann er sich auf bewährte Namen und treue Stammgäste des Festivals freuen. Evgeny Kissin macht in der Essener Philharmonie den Anfang, gefolgt von einem Auftritt Elisabeth Leonskajas, der mit einem Wiedersehen des Dirigenten Steven Sloane in Bochum verknüpft ist sowie weitere Konzerte von Gabriela Montero und Igor Levit. Durchweg Auftritte auf hohem Niveau, auch wenn ausgerechnet der hoch, vielleicht zu hoch gehandelte Igor Levit die zwiespältigsten Eindrücke hinterlässt.

Bochum. Es ist ein Konzert, gespickt mit außergewöhnlichen Akzenten. Nicht nur, dass Steven Sloane, der als Chefdirigent der Bochumer Symphoniker 27 Jahre lang das musikalische Profil der Stadt wesentlich mitgeprägt hat, am Ende das ein oder andere Tränchen nicht unterdrücken kann. Im Rahmen des Klavier-Festivals Ruhr nimmt mit dem Jerusalem Symphony Orchestra das erste Gastorchester nach der kulturellen Auszeit Platz auf dem Podium des Anneliese-Brost Musikforums. Und das ohne Maske, ohne Mindestabstand und in einer üppigen Besetzung, mit der auch Igor Strawinskys Feuervogel-Suite in ungefilterter Pracht zum Klingen gebracht werden kann.

Seit diesem Jahr ist Sloane Chefdirigent des israelischen Orchesters und ist sich der kulturpolitischen Bedeutung seiner Aufgabe vollauf bewusst. Und sein Gastauftritt in dem schmucken Konzerthaus, für dessen Bau er sich jahrzehntelang eingesetzt hatte, scheint das Publikum besonders zu berühren. Da rückt fast ein wenig aus dem Blickfeld, dass neben Sloane und dem Orchester ein weiterer berühmter Künstler zu Gast ist: Die russische Pianistin Elisabeth Leonskaja, die mit ihrem 20. Auftritt beim Klavier-Festival ihre Position in der Stamm-Familie des Festivals ebenso zementieren kann wie Sloane, der sogar 22 Auftritte verbuchen kann.

Gabriela Montero – Foto © Sven Lorenz

Wenn sie mit den israelischen Gästen einträchtig Beethovens 4. Klavierkonzert anstimmt, belegt sie, dass die humanen, alle politischen und religiösen Grenzen überwindenden Grundwerte der deutschen Kultur stärker und nachhaltiger wirken als alle rassistischen und antisemitischen Irrungen und Verbrechen. Leonskaja interpretiert das lyrisch gestimmte Werk, wie man es von ihr erwarten darf: unprätentiös, uneitel, mit klarem Anschlag und natürlicher Diktion, spieltechnisch auch in ihrem 75. Lebensjahr frisch und akkurat, lediglich in den Tempi den Schwung Sloanes bisweilen ein wenig abgeklärt bremsend.

Beethoven als Botschafter eines humanen Deutschlands gehen zwei Kompositionen israelischer Komponisten voraus, denen sich Sloane, der bereits in den 80-er Jahren zeitweise in Tel Aviv lebte, auch persönlich eng verbunden fühlt. So dem 1970 geborenen israelisch-palästinensischen Komponisten Samir Odeh-Tamimi mit einem schroffen, der harten Realität seiner Heimat zugewandten Stück für Streicher. Womit Sloane ähnliche Zeichen für eine Überwindung israelisch-palästinensischer Spannungen setzen möchte wie sein Kollege Daniel Barenboim. Arabisch kolorierte Akzente setzt zuvor das Werk des vor zwei Jahren verstorbenen Altmeisters der israelischen Musik, Noam Sheriff, mit seiner leuchtkräftigen Passacaglia Akeda als Huldigung an Jitzchak Rabin.

Mit Strawinskys Feuervogel-Suite spielt das Jerusalemer Orchester zum Abschluss seine Qualitäten klang- und eindrucksvoll aus. Mit einer fast raumsprengenden Opulenz, wie man sie seit über einem Jahr nicht mehr live erlebt hat.

Dortmund. Gabriela Montero ist ein Phänomen. Zum neunten Mal ist sie jetzt zu Gast beim Klavier-Festival Ruhr und ihrem nahezu einzigartigen Ruf als „Königin der Improvisation“ wird sie noch so frisch und kreativ gerecht wie vor zwanzig Jahren. Im Dortmunder Konzerthaus kombiniert sie ihre Improvisation zu Charles Chaplins Stummfilm The Immigrant aus dem Jahre 1917 mit etwa zeitgleichen Werken von Sergej Prokofieff und Sergej Rachmaninow. Damit spannt sie einen Bogen zum Film, denn auch Prokofieff und Rachmaninow emigrierten im Zuge der Oktoberrevolution nach Amerika. Und sie als gebürtige Venezolanerin fühlt sich in ihrem Heimatland schon lange nicht mehr geborgen und wohnt derzeit in Barcelona.

So stimmig der inhaltliche Bezug sein mag: Musikalisch wirkt die Werkfolge deutlich weniger schlüssig. Prokofieffs Sarkasmen op. 17 aus der schroffen Frühzeit des Komponisten fordern der Pianistin eindimensional hämmernde Anschlagstechniken ab, die ihre pianistischen Möglichkeiten nur begrenzt zum Ausdruck kommen lassen. Und auch die große virtuose Geste in Rachmaninows Zweiter Klaviersonate passt nur bedingt zum feinfühligen Naturell der Pianistin. Spieltechnisch bereiten ihr die Werke zwar nicht die geringsten Probleme. Aber viel Herzblut ist ihren Interpretationen nicht anzuhören.

Igor Levit – Foto © Peter Wieler

Das ändert sich, als die hintergründige Geschichte von der Überfahrt des Tramps zum Kontinent der Freiheit über die Leinwand flimmert. Gabriela Montero illustriert nichts, lässt zwar die amerikanische Hymne anklingen, als das Schiff die Freiheitsstatue kreuzt, verkneift sich aber vordergründige Effekte. Zu hören ist eine halbstündige Impression, zu der sich die Pianistin von der Handlung atmosphärisch und emotional inspirieren lässt. Es sind Seelenbilder voller Hoffnungen und Enttäuschungen, die Montero erstehen lässt. Und das mit einer beeindruckenden Stilvielfalt und Einfühlungsgabe.

Das genügt ihr aber, wie auch dem Publikum, nicht, und so spielt sie sich im Zugabenblock zur Hochform auf. Unvergessen ihr Auftritt in der Kölner Philharmonie, als sie sich auf Wunsch des Publikums den Karnevals-Hit Mer losse de Dom in Kölle vorknöpfte und zu einer brillanten Fantasie verdichtete. In Dortmund geht es nicht weniger furios zu. Das Publikum schlägt ihr zwei so unterschiedliche Ohrwürmer wie Over the Rainbow und Die Gedanken sind frei vor. Sie greift beide auf, obwohl sie das deutsche Volkslied nicht kennt und es sich vorsingen lässt, bevor sie es durch alle Tonarten und Rhythmen bis hin zu Salsa-Einlagen jagt, als Fuge kontrapunktiert und ihre Anschlagskultur für ein klangliches Farbenmeer nutzt. Dass sie sich im Laufe der Zeit ein gewisses Reservoir an Mustern angeeignet hat, ist ihr nicht vorzuwerfen. Man hört es ihren Improvisationen nicht an.

Was diese Fähigkeiten angeht, ist und bleibt Gabriela Montero im Klassik-Genre bis heute unerreicht. Und das Publikum dankt ihr mit entsprechend langem und heftigem Applaus.

Wuppertal. Man mag zum Medien-Hype, den Igor Levit als Musiker und moralischer Botschafter umgibt, stehen, wie man will. Was seine Konzertprogramme und sein Umgang mit der Musik angeht, hat er sich bisher von populistischen Extravaganzen fernhalten können. Sowohl seine außergewöhnliche Begabung als auch seine künstlerische Seriosität stehen außer Zweifel. Die Gefahr, wie sein ähnlich begabter Kollege Ivo Pogorelich in abgehobene stilistische Sackgassen und Abwege abzugleiten, scheint ihn bisher nicht zu bedrohen.

Auch bei seinem 15. Auftritt im Rahmen des Klavier-Festivals Ruhr erlebt das Publikum in der „ausverkauften“ Historischen Stadthalle von Wuppertal zunächst den gewohnten Levit, der das Klavierstück in es-Moll aus den Drei Klavierstücken D 946 von Franz Schubert unprätentiös, schlicht und sensibel vorträgt. Mit viel Feingefühl für den melodieverliebten Mittelteil und einer feinen Anschlagskultur.

Ein Eindruck, der sich beim Hauptwerk des Abends nicht wiederholt. Zwar kommen die Ansprüche an Franz Liszts Transkriptionen der Symphonien Ludwig van Beethovens, orchestrale Opulenz mit einer schlankeren Transparenz der Stimmverläufe zu kombinieren, ohnehin einer Quadratur des Kreises gleich. Die stilistische Unausgewogenheit, die Levit in der besonders ausladenden 3. Symphonie, der Eroica, erkennen lässt, irritiert jedoch. Es ist zwar geboten, die enorme dynamische Bandbreite des Werks auszuspielen. Aber nicht zu überdrehen wie Levit, der die Höhepunkte vor allem der Ecksätze geradezu aufdonnert, wobei er auch die Tempi der Läufe bis zur Unkenntlichkeit anzieht. Derart viele Ungenauigkeiten, verwaschene Passagen und verstolperte Töne waren bisher nur selten von ihm zu hören. Den formalen Zusammenhalt der vier Sätze zerstört er dann vollends, indem er den Trauermarsch in derart breitem Zeitlupentempo anstimmt, dass er den langsamen Marsch-Duktus zum Stillstand bringt. In dieser zähen Schwerfälligkeit wirkt der Satz isoliert ohne Bezug zum Rest der Symphonie. Der Umschlag in ein aberwitziges Tempo für das folgende Scherzo überfordert selbst Levits technische Möglichkeiten. Er steigt aus und muss neu ansetzen. An sich keine Katastrophe, in diesem Fall aber ein Zeichen für die Unausgewogenheit seiner Interpretation.

Diesem Gewaltakt dann noch als Zugabe einen schlichten, absolut deplatzierten Walzer von Schostakowitsch anzuhängen, unterstreicht den zwiespältigen Eindruck, den Levits Auftritt hinterlässt. Was die Begeisterung des Publikums freilich nicht mindert.

Pedro Obiera