O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Dana Schmidt

Aktuelle Aufführungen

Monströse Kraftakte

KLAVIER-FESTIVAL RUHR
(Diverse Komponisten)

Besuch am
26. Mai 2027
(Einmalige Aufführungen)

 

Klavier-Festival Ruhr, Anneliese-Brost-Musikforum Bochum, Kulturzentrum Herne

Mangel an originellen Ideen kann man weder Igor Levit noch Fred Hersch absprechen. Zwei Publikumslieblingen des Klavier-Festivals Ruhr, die jetzt im ausverkauften Anneliese-Brost-Musikforum in Bochum im Doppelpack antreten. Der zum Mediengiganten stilisierte Klassik-Pianist Levit und die Jazz-Größe Hersch sitzen sich, dem Titel Mirrors – Spiegel – entsprechend, an zwei Flügeln gegenüber. Zum Duett oder zum Duell?

Ganz genau wissen es die beiden bis zum Konzertbeginn und auch darüber hinaus selbst nicht so richtig. Ein gedrucktes Programm gibt es nicht. Letztlich entsteht ein anregender, von gegenseitigem Respekt getragener Dialog. Zusammen spielen sie nur die Zugabe, eine Improvisation über Bill Evans Jazz-Standard Peace Piece, bei dem Levit den Ton angibt. Ansonsten gibt Levit klassische Miniaturen vor, auf die Hersch mit fantasievollen Improvisationen antwortet.

Die Grundlage des anderthalbstündigen, pausenlosen Konzerts bilden klassische Ohrwürmer im Häppchen-Format. Mit schlichten Stückchen aus Robert Schumanns Kinderszenen und den Waldszenen tastet man sich vorsichtig vor. Startend mit der Träumerei, wärmt sich Hersch mit gekonnten Paraphrasen über die Vorlagen allmählich auf. Jazzig klingt das im Umfeld von Beethovens Appassionata und Chopins Nocturnes meist nicht, eher in der Tradition von Arrangement-Techniken Liszts oder Godowskys. Mit einigen Ragtimes gibt Hersch seine Zurückhaltung auf und lässt aufblitzen, was er als brillanter Jazzer zu bieten hat. Was auch auf Levit zutrifft, der mit dem Programm weit hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibt. Dafür hat Levit am Abend zuvor mit seinem Tristan-Projekt in Wuppertal reichlich Gelegenheit so wie sich Hersch noch am 6. Juli mit seinem Trio in Essen austoben kann. In Bochum bleibt es bei appetitlichem Finger-Food mit Dessert-würdigen Leckereien, denen allerdings das Hauptgericht fehlt.

Gleichwohl eine unterhaltsame Abwechslung von eingefahrenen Konzertformaten, die das Publikum mit standing ovations goutiert.

„Auch wüste, regellose Werke, die als unspielbar gelten, verwandeln sich unter seiner Pranke in Inseln des Glücks.“ Zutreffende Lorbeeren, mit denen die Musikjournalistin Eleonore Büning nach einem kräftezehrenden Auftritt im Kulturzentrum Herne dem Pianisten Marc-André Hamelin, mittlerweile zum 20. Mal, den Jahrespreis der deutschen Schallplattenkritik überreicht.

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Gefürchtete Attribute wie „unspielbar“ existieren für den kanadischen Musiker in der Tat nicht. Und da er bei der Werkauswahl auch keinen Wert auf bequeme Publikumswirksamkeit legt, füttert er seine Programme konsequent mit Stücken, denen man ansonsten nahezu nie live begegnen kann. So auch bei seinem 18. Auftritt im Rahmen des Klavier-Festivals Ruhr, in dessen Zentrum er Paul Dukas‘ einzige, um das Jahr 1900 entstandene Klaviersonate stellt. Ein viersätziges, 45-minütiges Monstrum, dem nichts vom Charme und Witz des populären Zauberlehrlings anhaftet. Ein Tsunami an rastlosem Laufwerk und auftürmenden Akkord-Kaskaden, an spieltechnischen Gemeinheiten noch die Liszts und Rachmaninows überbietend. Auch dem Hörer wird es nicht leicht gemacht, aus dem virtuosen Füll- und Verpackungsmaterial der Sonate die letztlich blasse melodische Substanz heraushören und verfolgen zu können.

Dass Hamelin alle Herausforderungen absolut mühelos in den angemessenen, im Scherzo und dem Finale also in irrwitzig schnellen Tempi meistert, verwundert angesichts seines Rufs als „Über-Virtuose“, wie ihn die New York Times einmal nannte, längst nicht mehr. Dennoch überrascht auch diesmal, mit welchem Feingefühl er selbst im dichtesten Getümmel die wildesten Läufe arabeskenhaft zart zum Klingen bringen kann und mit welch bewundernswerter Übersicht er die verwickeltsten Stimmverläufe zu entflechten versteht. Dass angesichts dieser Souveränität manches ein wenig distanziert und kühl wirkt und nicht alles „zu Herzen geht“, wie Büning in ihrer Laudatio schwärmt, nimmt man da gern in Kauf.

Nach der Pause geht es dann mit vier Charakterstücken von Gabriel Fauré etwas entspannter zu, auch wenn selbst Faurés Nocturnes keine durchgehenden Ruheoasen zum genüsslichen Zurücklehnen bieten. Nach dem Kraftakt der Dukas-Sonate kann Hamelin damit immerhin genügend Energie für den Schlusspunkt des offiziellen Programms sammeln: seiner eigenen Komposition, der sechssätzigen Suite à l’ancienne, in der er mit artistischer Geschmeidigkeit und treffsicherem Stilgefühl barocke und klassische Vorbilder zu Preziosen pianistischer Drahtseilakte schmiedet.

Das Publikum gerät vor Begeisterung geradezu aus dem Häuschen.

Pedro Obiera