O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Sven Lorenz

Aktuelle Aufführungen

Ideale Corona-Besetzung

KLAVIER-FESTIVAL RUHR 2020
(Diverse Komponisten)

Besuch am
4., 5. und 10. September 2020
(Einmalige Aufführungen)

 

Folkwang-Universität, Essen, Anneliese-Brost-Musikforum, Bochum

Franz Liszt sei Dank: Seine Bearbeitungen der neun Symphonien Ludwig van Beethovens für Klavier ermöglichen Aufführungen der Orchesterwerke in idealer Corona-Besetzung auch unter strengen Hygieneregularien. In fünf Konzerten stemmt das Klavier-Festival Ruhr die Mammutaufgabe, an zwei Tagen in der Neuen Aula der Folkwang-Universität alle neun Symphonien zu präsentieren, ausgeführt von acht jungen Interpreten. Ausgerechnet die jüngste von ihnen, die 19-jährige Amerikanerin Lauren Zhang, hat die schwere Bürde zu tragen, den Zyklus mit der 9. Symphonie zu beschließen. Der Symphonie, die alle gewohnten Dimensionen sprengt und deren Chor-Finale selbst Liszt an seine Grenzen stoßen ließ. Die Pianistin, die relativ kurzfristig für den verhinderten Joseph Moog einsprang, meisterte die Herkulesaufgabe hervorragend. Nicht nur, was die pianistisch-manuellen Fähigkeiten betrifft, sondern vor allem in ihrem Verständnis für die Besonderheiten der Liszt-Transkriptionen. Sie war einige der wenigen Interpreten des Wochenendes, die begriffen, dass es Liszt nicht um eine effektvoll virtuose Überfrachtung der Symphonien ging, sondern darum, die melodischen und formalen Strukturen der Stücke klarer herauszustellen und den Ausdrucksgehalt der Musik zu vertiefen. Insofern verwundert es nicht, dass sich Liszt mit pianistischen Zutaten sehr zurückhielt. Das wurde nicht in jedem Beitrag so deutlich wie in Lauren Zhangs Neunter oder Sergei Redkins Eroica.

Bei allem Respekt vor dem eindrucksvollen und kräftezehrenden Einsatz von Claire Huangci, die gleich zwei große und denkbar unterschiedliche Brocken wie die Pastorale und die Siebte Symphonie hintereinander bewältigt, scheint sie die Werke vor allem auf virtuosen Hochglanz zu trimmen und Rekordmarken in Sachen Dynamik und Tempo anzustreben. Vom musikalischen Kosmos der Musik bleibt da einiges auf der Strecke, womit sie an dem Wochenende nicht allein bleibt.

Foto © Mateus Zahira

Jeweils etwa 100 Zuschauer folgen dem Konzertreigen mit großer Aufmerksamkeit, ein Drittel davon hält die gesamte Distanz durch. „Auch wenn wir die Abstandsregeln derzeit strikt einhalten müssen, gibt es einen, der uns sehr nahekommen darf, nämlich Ludwig van Beethoven.“ Mit diesem Bekenntnis soll Intendant Franz-Xaver Ohnesorg recht behalten.

Vor drei Monaten erlöste Rudolf Buchbinder mit Beethovens Diabelli-Variationen im Bochumer Anneliese-Brost-Musikforum das Revier aus der kulturellen Corona-Starre. Jetzt stellt sich mit Gerhard Oppitz, ebenfalls im Rahmen des Klavier-Festivals Ruhr, ein weiteres Schwergewicht der deutschsprachigen Pianisten-Szene, an gleicher Stelle Beethovens Herkulesaufgabe.

Zwei Meister, die über Jahrzehnte an Beethoven gereift sind, der 73-jährige Wiener Rudolf Buchbinder und der sechs Jahre jüngere Deutsche Gerhard Oppitz. Zwei Persönlichkeiten von denkbar unterschiedlicher Ausprägung, die jedoch beide keinen Wert auf eitle Selbstdarstellung legen und ihre langen Karrieren nicht zuletzt ihrem extrem werkergebenen Umgang mit der Musik verdanken. Damit können sie nicht nur auf eine homogene Karriere zurückblicken, sie stehen auf dem Höhepunkt ihres Könnens, wenn es um Werke wie die vom Format der Diabelli-Variationen geht. Herausforderungen, die viel Erfahrung und persönliche Reife voraussetzen. Insofern unterscheiden sich die Interpretationen der beiden Pianisten eher im Detail als im Grundverständnis. Oppitz, der sich die Maximen seines Mentors Wilhelm Kempff, „Mut zur freien Gestaltung“ und „Sinn für Poesie“, zu Herzen nahm, und Buchbinder, der in den Diabelli-Variationen ein „Panoptikum menschlicher Grundwerte“ sieht, bestechen beide durch kraftvolle, inspirierte und gereifte Interpretationen des gewaltigen Werks. Die schroffen Stimmungswechsel der einzelnen Variationen bewältigen beide so überlegen, dass die zyklische Geschlossenheit gewahrt bleibt. Oppitz betont stärker den poetischen Tonfall der bereits auf die Romantik vorausweisenden Musik und bevorzugt einen etwas schwereren Anschlag, Buchbinders Vortrag wirkt innerlich eine Prise erregter, ohne die Kontrolle über seine kultivierte Anschlagstechnik zu verlieren.

Oppitz ergänzt den Beethoven-Koloss durch die drei stimmungsvollen Klavierstücke D 946 von Franz Schubert, womit er einen Bogen zu seinem romantisch angehauchten Beethoven-Bild spannt. Eine Kombination, die man eher von dem Wiener Buchbinder erwartet hätte, der für sein Corona-bedingt gekürztes Programm ursprünglich zeitgenössische Bearbeitungen des Diabelli-Themas vorgesehen hatte.

Die Einschränkungen durch die Hygiene-Vorschriften nimmt das Publikum mittlerweile mit disziplinierter Selbstverständlichkeit hin. Was die Begeisterung nicht schmälert. Oppitz bedankt sich stilgerecht mit einem Intermezzo von Johannes Brahms.

Pedro Obiera