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Vor gut 20 Jahren lief Claude Debussys einzig vollendete Oper am Stadttheater Bern, nun feiert das 1902 in Paris uraufgeführte Werk Pelléas et Mélisande an den Bühnen Bern eine erfolgreiche Wiederbelebung. Das Regieteam unter Elmar Goerden setzt das Eifersuchtsdrama nach der Dichtung von Maurice Maeterlinck punktgenau in Szene, Sebastian Schwab liefert am Pult vom Berner Symphonieorchester die beseelten Klangfarben. Unter den Solisten stechen besonders Evgenia Asanova und Robin Adams heraus.
Noch bevor Sebastian Schwab seinen Dirigentenstab zu den ersten Klängen von Debussys rund dreistündigem Opus hebt, beginnt die unheilvolle Geschichte von Pelléas und Mélisande. Auf der Bühne rieselt feiner Kunstschnee vom Schürboden herab, die Zuschauer blicken auf die Innenräume einer kargen Behausung, die mehr an eine Containersiedlung erinnert als an ein prunkvolles Schloss. Erzählt wird nämlich die Geschichte des Prinzen Golaud, der im dichten Wald auf das verschüchterte Mädchen Mélisande trifft. Sie soll seine Frau werden, doch es dauert nicht lange, bis die Schöne Gefallen an seinem Bruder Pelléas findet. Das Drama nimmt seinen vorbestimmten Lauf.
So eindeutig die von Eifersucht getriebene Dreiecksbeziehung zwischen den Brüdern und der jungen Frau im Stück gezeichnet ist, so sehr liegt alles andere in dieser Erzählung im Nebel verborgen. Über allem thront König Arkel. Er lebt mit den beiden Männern und deren Mutter sowie dem Enkel Yniold aus einer ersten Verbindung Golauds unter einem Dach. Darum herum gibt es viel dunklen Wald und einen Ausblick aufs Meer. Die Figuren scheinen abgeschnitten von der Welt, sie alle tragen ein düsteres Geheimnis mit sich herum. Ähnlich wie in Béla Bartóks Oper Herzog Blaubarts Burg von 1911 sind auch die Verstrickungen in Debussys Solitär dem Symbolismus zuzuordnen. Auch Opernkenner rätseln, was es mit den Konstellationen auf sich hat, die Deutungen fallen entsprechend unterschiedlich aus.
Der Zugang zur mystischen Dichtung, die Debussy in einen Fünfakter von beachtlicher Länge gepackt hat, packt nicht jeden Opernfreund gleich von Beginn weg. Geschulte Ohren kommen schnell ins Schwärmen, wenn sie von den atmosphärischen und zugleich minimalistischen Klangwelten des Komponisten sprechen; andere hingegen empfinden das Tongebilde in einem Maße vergeistigt, meditativ und entmaterialisiert, dass Ihnen dieser gleichförmige Strom zu undramatisch und blutleer erscheint. Giacomo Puccini frotzelte bei der Uraufführung über die Partitur seines Kollegen: «Eintönig wie ein Franziskaner-Habit».
Die Regie unter Elmar Goerden beugt allfälligen Eintönigkeiten von Anfang an vor und bedient mit seinem Team Silvia Merlo, Ulf Stengl und Christian Aufderstroth für Bühne und Licht beste Krimiunterhaltung in der Manier von Nouvelle-Vague-Ikone Claude Chabrol. Die Kostüme im Sechzigerjahre-Stil kommen von Lydia Kirchleitner und passen farblich zum Innendekor. Eine Drehbühne verschafft Einblicke in die seltsamen Sitten in Arkels bizarrem Bungalow. Ein abstraktes Panoptikum, in dem die Protagonisten auffallend distanziert miteinander umgehen. Sie gehen alle auf Glas. In den verwinkelten, engen Räumen gibt es auch Ausblicke, sie dienen den Akteuren als Fenster ins Freie, ähnlich wie ein Teleskop ins Weltall. Das Publikum wird in der Umkehrung zum Voyeur, dem kein unschönes Detail in diesem Labyrinth verborgen bleibt. Poetisch ist der Schluss, wenn sich das Liebespaar im Jenseits von Gut und Böse trifft und auf die Weite außerhalb des Kerkers blickt.
Evgenia Asanova ist eine Idealbesetzung für die geheimnisvolle Mélisande, die sich nur vom jüngeren Bruder gerne berühren lässt und sonst wie Andersens verstörtes Mädchen mit den Schwefelhölzern wirkt, das den Tod nicht als Gefahr, sondern als Erlösung sieht. Asanovas Mezzosopran hat die nötige Leichtigkeit, die feinen Melodiezeichnungen Debussys adäquat auszudrücken. Ebenso subtil setzt Michał Prószyński seinen lyrischen Tenor als Pelléas im Studentenoutfit ein, manchmal jedoch einen Tick zu sacht, sodass er im wogenden Orchestertutti fast untergeht.
Foto © Janosch Abel
Für Robin Adams ist die Partie des ambivalenten Golaud ein Geschenk, das der charismatische Bariton mit sichtlichem Impetus genießt. Sein Antiheld ist ein getriebener, verunsicherter Mann und Adams bringt dessen Stimmungsschwankungen bis hin zum Mord an seinem Bruder mit packender Leidenschaft auf die Bühne. Auch stimmlich überzeugt Robin Adams wie schon als Alberich in Wagners Rheingold mit einer gehörigen Portion an Volumen und maskulinen Farben. So richtig in den tiefen Burgunder-Weinkeller geht es mit Bass Matheus França als stoischem Hausherrn, der in dieser Rolle allerdings nicht viel Gelegenheit bekommt, mit Schattierungen aufzuwarten.
Claude Eichenberger ist Arkels Schwiegertochter Geneviève im Deux-Pièces und mit platinblonder Monroe-Frisur. Ihre Angst vor dem Pascha ist allgegenwärtig, in einer Szene wird ein Missbrauch seitens Arkels angedeutet. Leider kommt Eichenbergers eleganter Mezzosopran nur am Anfang zum Tragen, Debussy hat seine Geneviève danach stumm geschaltet. Orsolya Nyakas Sopran hat einen hellen Schimmer und eignet sich gut für die Hosenrolle des Yniold, etwas mehr Kraft könnte allerdings sogar dieser Knabenpartie nicht schaden. Die Diktion, die es für diese französische Literaturvertonung zwingend bräuchte, ist nicht gleichermaßen ausgeprägt, doch Oper ist wie Kino untertitelt.
Sebastian Schwabs Dirigat des Berner Symphonieorchesters bildet das i-Tüpfelchen für diesen diffizilen Opernschmaus. Die Tempi geschmeidig, die Farben gedeckt und in den Zwischenspielen von großer Intensität gezeichnet, präsentiert Schwab einen außerordentlich atmosphärischen Klangkörper, der trotz anhaltender Spannkraft nicht überdreht und ebenso wenig in Langatmigkeit kippt. Es sind exzellent ausgestaltete Klanginseln, die filigran schimmern und die mit äußerster Präzision bestechen.
Der Pausenapplaus des Premierenpublikums ist verhalten, erst nach dem letzten Vorhang tauen die Berner auf und man hört vereinzelte Bravorufe. Die durchwegs gelungene und stringente Produktion verdanken Bühnen Bern dem ehemaligen Operndirektor Xavier Zuber, der sie während seines Schaffens am Haus aufgegleist hat. Dafür gibt es Applaus direkt an Zuber gewandt, der die Vorstellung besucht. Es mag an der Programmierung liegen, dass Pelléas et Mélisande bis dato nicht sonderlich gut gebucht ist. Sind es die mehrheitlich schweren Werke in dieser Saison oder die eher «schwierigen» Inszenierungen? Fehlen die Opernhits? Gerade jetzt lohnt sich ein Opernbesuch, in der Zweitbesetzung der Mélisande und des Pelléas singen Eleonora Vacchi und Todd Boyce.
Peter Wäch