O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Holger Hettinger

Aktuelle Aufführungen

Gelungener Vorlauf

WERKE FÜR VIOLINE SOLO
(Diverse Komponisten)

Gehört am
8. Juli 2020
(Premiere)

 

Deutschlandfunk Kultur, Jesus-Christus-Kirche, Berlin

Es sind im Wortsinn verrückte Zeiten. Während sich nach dem Shutdown für viele Menschen der Berufsalltag allmählich wieder normalisiert, sofern sie nicht gerade im Sommerurlaub sind, bleibt die Lage für viele Solo-Künstler weiter ungewiss. Konzerte und Aufführungen wurden rigoros – für viele gar bis Mitte kommenden Jahres – abgesagt. Jetzt neue Engagements zu finden, stellt sich schwierig dar, weil zumindest die Theater und Opernhäuser derzeit in der spielfreien Zeit sind. Viele der Sänger, Instrumentalisten, Schauspieler oder Tänzer sind nach dem ersten Schock und Maßnahmen zur Existenzsicherung damit beschäftigt, neue Projekte zu entwickeln. Da werden auf vielen Gebieten die Karten neu gemischt. Und für den einen oder anderen war es auch eine Zeit des Erwachens. Was das im Einzelnen bedeutet, und welche Konsequenzen daraus resultieren, wird dann wohl im Herbst zu beobachten sein.

Auch Lea Birringer, ihres Zeichens Geigenvirtuosin, hat sich vom Shutdown nicht ins Bockshorn jagen lassen. Zwei wunderbare Videos sind in dieser Zeit entstanden. Und sie hat die Vorbereitungen für ein neues Projekt vorangetrieben.

Die Jesus-Christus-Kirche in Berlin-Dahlem ist ein ganz besonderes Gebäude. Von 1933 bis 1945 war sie ein Ort der Bekennenden Kirche. Martin Niemöller predigte hier unter großem Andrang. Und ihrer humanitären Haltung ist sie treu geblieben. In den letzten Jahrzehnten bot sie Menschen, die Verfolgung und Flucht erleben mussten und von Abschiebung bedroht waren, Kirchenasyl. Heute ist sie zudem eine kulturelle Institution in Berlin. Denn zwischen den Gottesdiensten dient sie regelmäßig als „Tonstudio“ für Musikaufnahmen.

Holger Hettinger und Lea Birringer – Foto © N.N.

So jetzt auch dem Hörfunksender Deutschlandfunk Kultur. Der hat Birringer eingeladen, ein „Geisterkonzert“ aufzuführen, also ein Konzert ohne Publikum. Dafür aber mit jeder Menge Technik, um das Konzert auf höchstem Niveau live im Radio zu übertragen. Es ist ja durchaus üblich, dass Musiker, wenn sie ein neues Programm entwickelt haben, damit durch kleinere Konzertsäle tingeln, um das Feedback des Publikums zu erleben, ehe sie es auf einem Album verewigen. Aber es gehört doch zu den eher seltenen Gegebenheiten, ein solch neues Programm gleich einem Millionenpublikum vorzustellen. Die Geigerin traut sich was und nimmt die Einladung an.

Berechtigt ist das Selbstbewusstsein insofern, als sie mit ihrem letzten Album Di tanti palpiti einen überragenden Erfolg eingefahren hat. Aber nach mindestens drei Monaten Konzert-Abstinenz hat ein solches Unterfangen schon mehr mit einer Mutprobe als mit täglicher Routine zu tun. Bedauerlich, dass Holger Hettinger in seiner Anmoderation kein Wort über die außergewöhnliche Situation verliert. Sonst hätten sicherlich mehr Hörer dem Konzert als dem Abenteuer folgen können, was es ist.

Lea Birringer hat als Ausgangspunkt ihres neuen Programms Musik von Johann Sebastian Bach ausgewählt, genauer die Partita Nummer 3 in E-Dur. Aber wer jetzt die 100.000-ste Bach-CD erwartet, wird glücklicherweise enttäuscht. Die Partita hat aber schon mal genau den Schwierigkeitsgrad, mit dem die Violinistin ihre ganze Virtuosität unter Beweis stellen kann. Die Akustik der Jesus-Christus-Kirche überzeugt voll und ganz. Und so kommen die Hörer von Beginn an in den Genuss eines ganz hervorragenden Violinkonzertes. Der Clou der Geschichte: Birringer hat nach Komponisten gesucht, die auf Bach Bezug nehmen. Und hat sie auch gefunden. Da gibt es von Ernst Lothar von Knorr die Partita, die als nächstes auf dem Zettel steht. Seine Komposition ist relativ romantischer Natur. Man kennt diesen Komponisten eigentlich gar nicht – und dennoch ist gerade der dritte Satz, seine Chaconne nach dem Volkslied Es geht eine dunkle Wolk hinein, eindrucksvoll. Bei Lera Auerbachs Par.ti.ta erkennt man die indirekten Zitate erst auf den zweiten Blick. Und wie es der Titel schon andeutet, ist die Musik eher zerstückelt und sphärisch. Eugène Ysaÿe schließt das Konzert mit der Sonate in a-moll ab, die als „Totenmesse“ durchweg das Dies-Irae-Motiv und damit tatsächlich direkte Zitate aus Bachs Partita verwendet.

Für Birringer ist es ein stimmiges Programm. Für den Hörer ist es eine Erlebnisreise, auf die sie die Geigerin mitnimmt. Da darf man sich schon jetzt auf das Album freuen, das im August unter gleichen Bedingungen eingespielt und im kommenden Jahr veröffentlicht werden soll. Hinzu kommen dann noch Präludium und Fuge Opus 117/6 von Max Reger. Wer sich jetzt schon einen Eindruck von diesem außergewöhnlichen Konzert verschaffen will, kann es in den kommenden drei Wochen noch bei Deutschlandfunk Kultur abrufen. Birringer hat nach exzellent bestandenem Abenteuer das kommende Album schon mal auf den Punkt gebracht: „Eine würdige Nachfolge für das Di-tanti-palpiti-Album“.

Michael S. Zerban