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Existenzsicherung

SLEEPLESS
(Peter Eötvös)

Besuch am
28. November 2021
(Uraufführung)

 

Staatsoper Berlin

Eine Uraufführung ist immer etwas Besonderes. Zumal in diesem Fall, da es die dreizehnte Oper von einem sehr angesehenen Komponisten wie Peter Eötvös ist, der zugleich auch das Werk dirigiert.  Regisseur Kornél Mundruczó inszeniert die Geschichte eines jungen Paares, dessen ausweglose Situation in einem kleinen norwegischen Küstendorf in Gewalt mündet.

Basierend auf Trilogie des norwegischen Autors Jon Fosse, verdichtet Librettistin Mari Mezei die Geschichte auf zwei Akte. Das junge Paar Alida und Asle – sie ist hochschwanger – wird obdachlos, als ihr Bootshaus verkauft wird und der neue Besitzer sie rauswirft. In einer nassen und kalten Nacht gehen sie zu Alidas entfremdeter Mutter und bitten sie, sie bei sich aufzunehmen. Als die Mutter gegenüber Alida gewalttätig wird, tötet Asle sie. Nun ist das Paar auf der Flucht. Als nächstes klopfen die beiden an einem Haus an, in dem die Dorfhure wohnt, die zwar Asle, aber nicht Alida aufnehmen will.  Und so nimmt die Tragödie ihren Lauf. Überall werden sie abgewiesen – sie dringen praktisch mit Gewalt in das Haus einer alten Frau ein und stoßen sie in ihre eigene Gefriertruhe – auch sie kommt ums Leben. Am Ende holt die Gerechtigkeit sie ein, und Asle wird gehängt. Alida hat inzwischen entbunden, und ein älterer Mann aus ihrem Dorf erkennt sie und nimmt sie und das Baby bei sich auf.

Obwohl Fosses Werk 1988 zum ersten Mal veröffentlicht wurde, macht die historische Verbindung zu Maria und Josef auf der Suche nach einer Unterkunft einerseits, aber auch zur aktuellen Flüchtlingssituation auf dem Balkan und anderswo andererseits die Handlung für das heutige Publikum mehr als relevant. Und ja, die andere Assoziation, die sich aufdrängt, ist die zu Bonnie und Clyde, dem amerikanischen Mörderpaar der 1930-er Jahre. Im Grunde ist es die ewige Geschichte der existenziellen, menschlichen Suche nach Zugehörigkeit, von Gesetzesbruch als Reaktion auf menschliche Gleichgültigkeit und vom Kampf mit der eigenen Suche nach Identität und Platz in der Gesellschaft.

Die Bühnen- und Kostümbildnerin Monika Promale hat für diese Opernballade, wie Eötvös sie nennt, eine surreale Kulisse geschaffen: einen überdimensionalen Lachs, dessen fischige Schuppenseite der Hintergrund für die Außenszenen bildet, und dessen fleischiges Inneres – mitsamt den Gräten – für die Innenszenen dient. Warum Lachse? Sie wandern in die Ferne, kehren aber zum Laichen nach Hause zurück – eine weitere Analogie?

Die Sänger sind in diesem vielschichtigen Werk gut besetzt und verfügen über eine erstaunlich gute Diktion auf Englisch. Die Sopranistin Victoria Randem singt die Alida mit Gelassenheit und schönen Schattierungen. Ihre Charakterisierung der jungen Mutter und ihre Sorge um das Neugeborene, die so weit geht, dass sie alle fremden Ereignisse um sich herum ausblendet, ist bemerkenswert. Der sehr helle, hohe Tenor von Linard Vrielink passt gut zu dem verzweifelten, aber liebenden jungen Asle, dem zukünftigen Vater, der zum vielfachen Mörder wird.  Die kleineren Rollen entwickeln jeweils ihre eigene Persönlichkeit, vor allem die alte Frau von Mezzo Hanna Schwarz und Siyabonga Maqungo mit seinem klaren Tenor in der Rolle des Juweliers sowie der strahlende Sopran von Sarah Defrise als frivole Dorfhure.  Bariton Tómas Tómasson ist der Mann in Schwarz, der Asle vor Gericht bringt. Mit seinem warmtimbrierten Bariton reicht Arttu Kataja als Asleik Alida in ihrer Stunde der größten Not eine schützende Hand. Alidas Mutter wird mit angemessener Hysterie von der Mezzosopranistin Katharina Kammerloher gesungen, Bariton Roman Trekel ist ein ungestümer Gastwirt.

„Meine Musik ist Theatermusik“, sagt Peter Eötvös. Kein Wunder, dass die Melodien, die der 77-jährige Komponist zu Papier bringt, immer dramatisch, bilderreich, lebendig und eben theatralisch sind. Das erreicht er mit normaler Orchestrierung und einigen zusätzlichen Schlaginstrumenten. Seine Musik bleibt dabei immer harmonisch, hier gibt es keine schrillen Dissonanzen. Als Dirigent hat er die fein klingende Staatskapelle bis zum letzten, verklingenden Ton der Solovioline sanft im Griff.

Die Handlung dieser Opernballade ist so trostlos wie das Novemberwetter im wirklichen Leben. Die einzige Lösung, die sie ihren Protagonisten bietet, ist der Tod. Asle wird in einem Akt der Bürgerjustiz gehängt, und eine grauhaarige Alida kehrt in einem Epilog mit Schlussarie zurück und erzählt dem Geist von Asle, dass der gute Dorfbewohner Asleik ihr und ihrem Sohn ein anständiges Leben ermöglicht hat. Aber sie kann ihre wahre Liebe nicht vergessen und freut sich darauf, Asle bald wiederzusehen, als sie ins Meer geht und sich ertränkt.

Das Publikum der Staatsoper bedenkt die Uraufführung von Sleepless mit viel Beifall. Da es sich um eine Koproduktion mit dem Grand Théâtre de Genève handelt, wird es dort im Frühjahr kommenden Jahres aufgeführt werden.

Zenaida des Aubris