O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Bernd Uhlig

Aktuelle Aufführungen

Ahnungslos suchender Siegfried

SIEGFRIED
(Richard Wagner)

Besuch am
19. November 2021
(Premiere am 12. November 2021)

 

Deutsche Oper Berlin

Immer wieder blättert Siegfried auf der Bühne verunsichert in den Noten von Klavierauszug und Partitur, um seinen Weg zu bestimmen und Brünnhilde zu finden. Ebenso ist es der Deutschen Oper Berlin und ihren Zuschauern in den Monaten der Pandemie mit der immer wieder verschobenen, umdisponierten und schließlich zunächst in abgewandelter Reihenfolge auf die Bühne gebrachten Produktion vom neuen Ring des Nibelungen gegangen. In diesem November können schließlich zwei gesamte Zyklen gezeigt werden. Im ersten Durchlauf der Aufführungen feiert auch Siegfried Premiere.

Stefan Herheim und sein Team mit ihm selbst und Silke Bauer als Bühnenbildner, Uta Heisike für die Kostüme, Ulrich Niepel für Licht und Torge Møller für die Videokunst setzen ihre bereits in Das Rheingold und Die Walküre begonnene, fantasievolle Konzeption in großer Geschlossenheit weiter um. Die Handlung entwickelt sich vor dem Hintergrund und auf einer immer übermächtig gegenwärtigen Menge von Koffern – Sinnbild einer Welt in Unordnung und von Menschen auf Flucht und Suche.

Im dritten Teil des Rings erlebt der Zuschauer den heranwachsenden Siegfried unter Obhut Mimes, dem Sieglinde im Tode ihr Neugeborenes übergeben hatte. Die beiden malträtieren sich mit Lust gegenseitig. Mime offenbart Siegfried schließlich seine Herkunft. Der will sofort weglaufen. Er schmiedet das von der Mutter überlassene Schwert Nothung neu und stürmt davon, um zu Fafner zu gelangen, bei dem er das Fürchten lernen will. Nachdem er den erschlägt, ohne das Fürchten erfahren zu haben, kann er unvermittelt das Zwitschern eines Waldvogels verstehen. Der warnt ihn vor Mime, der ihm einen Ring aus Fafners Höhle entreißen und letztendlich Siegfried töten will. Siegfried erschlägt Mime und folgt dem Hinweis des Vogels zu einer wundervollen Frau. Er erweckt Brünnhilde aus ihrem Schlaf, in den Wotan sie am Ende der Walküre versetzt hat. Brünnhilde legt ihre Gottheit als Walküre ab, wird Mensch und Frau und vereint sich mit Siegfried zu einer jubelnd-utopisch-tödlichen Liebe.

Die Gestaltung des Abends – wie auch der vorangegangenen Teile des Rings – ist gekennzeichnet durch eine spielerisch-bildhafte äußere Erscheinungswelt, die sich vielfältig und fantasievoll auf verschiedenen Beziehungs- und Spielebenen gleichzeitig entfaltet. Beispielhaft sei hier die mit großer kindlicher Fantasie kreierte Erscheinung des Drachen Fafner genannt, der direkt aus einem modernen Kinderbuch stammen könnte. Oder gleich die ganze Welt, die auf einem bühnenweiten Segeltuch sichtbar wird, weil sie doch ganz nah bei Fafners Höhle liegen soll, wo Siegfried sich gerade befindet.

Die musikalische Umsetzung des Abends bestimmt eine außerordentlich filigrane Gestaltung in Spiel und Gesang. Entsprechend ist auch die Sängerbesetzung zusammengestellt.

Foto © Bernd Uhlig

Der Siegfried von Clay Hilley besticht mit einem souveränen, hellen Organ, das am stärksten in der Mittellage überzeugt als immerwährender Junge, der niemals zum Mann heranwächst. Der Mime von Ya-Chung Huang setzt seine überlegene und nachgerade einschüchternd perfekte Charakterstudie des Zwergs in der schon an früherer Stelle des Rings gezeigten, perfekten stimmlichen und darstellerischen Hochform um. Seine behände Physis verschmilzt mit dem dargestellten Charakter und äußerlich zugleich mit dem Bild Richard Wagners, das er in seiner Maske zur Darstellung bringt. Iain Paterson verfügt als Wanderer über eine langjährige Bühnen- und Gesangserfahrung. Für seine durchhörbare, feine deklamatorische Gestaltung der Partie kommt ihm beim Stimmvolumen das vom Orchester praktizierte feinsinnig-zurückhaltende, niemals zu laute Spiel entgegen.

Der Joker-Alberich von Jordan Shanahan verkörpert Mimes Bruder mit Bravour. Er ist seinem brillanten Bruder stimmlich ein ebenbürtiger Partner, besser verzweifelter Gegner. Darstellerisch lauert und kauert er den gesamten Abend über an allen möglichen und unmöglichen Ecken und Ritzen sowie Bühnenpositionen, um angstvoll und selbstquälerisch den Weg seines unter Leid geschmiedeten Ringes zu verfolgen.

Dem Fafner von Tobias Kehrer macht es bei aller stimmlichen Präsenz und tiefster Basstönung sichtlich Spaß, einen auch aus dem Kinderbuch stammenden Riesenwurm zu geben. Man gewinnt den Eindruck, dass er diesen Auftritt gleich auch auf dem nächsten Kindergeburtstag ausprobieren will.

Die Erda der Judit Kutasi ist eine nicht nur durch magisches Träumen und Sinnen, sondern in der Maske auch durch das Alter gezeichnete Urmutter der Götter. Ihr weichströmender und im Kern kraftvoller Mezzosopran bewährt sich im entscheidenden Moment höchst wirkungsvoll in der Auseinandersetzung mit Wotan, der sie mit seinem Speer zum Ende der Begegnung unerwartet und abweichend vom Textbuch tötet. Mit dem Tod der Urmutter hat die Götterdämmerung bereits begonnen.

Nina Stemme ist als Brünnhilde noch immer in ihrer Strahlkraft, in Ihrer Trittsicherheit bei den trompetenhaften Spitzentönen, in ihrer Fähigkeit, die gewaltigen Aufschwünge und Gesangsbögen der erwachenden Frau zu verkörpern, eine atemberaubende Erscheinung. Sie tritt ihrem jungenhaften Siegfried mit mütterlichem Schutz und Verständnis entgegen.

Die Besetzung des Waldvogels mit Sebastian Scherer als Solist des Knabenchores der Chorakademie Dortmund greift eine Ursprungsidee Richard Wagners auf, nämlich abweichend von der üblichen Vorgehensweise durch die Besetzung mit einer hohen Sopranstimme, die Partie mit einem Knabensopran zu besetzen. Das hat seine Folgerichtigkeit auch darin, dass Siegfried mit der Begegnung Brünnhildes dann eben erst wirklich seiner ersten Frau begegnet. Auch intensiviert dieses Vorgehen mit einer Kinderstimme den jungenhaft-kindlichen Auftritt Siegfrieds.

Das Orchester der Deutschen Oper Berlin unter seinem Chefdirigenten Donald Runnicles musiziert zeitweise derart feinsinnig und durchhörbar, als ob die Musiker am liebsten kammermusikalische Solovorträge halten wollen und nur durch die Partitur zu diesem exquisiten, gemeinschaftlichen Musizieren angehalten werden. Aber mit welch feinsinniger Delikatesse! Kein dicker, pastoser Wagnerbrei, kein Lärmen, kein Dröhnen, kein die Stimmen verdeckender Klang, wohin das Ohr am Abend auch hört. Eines der beglückenden Ereignisse dieser Umsetzung des Rings. Man könnte meinen, die Mitglieder des Orchesters haben jedwede Zeit in der Pandemie nur auf das Wiedererstrahlen ihres Kollektivs hingearbeitet.

Großer Beifall und Jubel der begeisterten Wagner-Fans im Hause.

Achim Dombrowski