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Aktuelle Aufführungen

Stille wird zum Schatten

SCHATTENZEIT
(Diverse Komponisten)

Gesehen am
10. Januar 2023
(Livestream)

 

Berliner Kabarett-Anstalt, Berlin

Vor nunmehr knapp drei Jahren kam für die Kulturanbieter das böse Erwachen. Bis dahin konnten sie so tun, als ginge sie das Internet – abgesehen von Werbemaßnahmen – nichts an. Dann wurden die Bühnen bundesweit geschlossen. Den meisten Anbietern fehlte das Know-how, um sich in der darauffolgenden Zeit adäquat zu präsentieren. In vielen Häusern begann eine Aufholjagd, von der die meisten Beobachtern glaubten, dass sie in dem Moment wieder enden würde, wenn die Aufführungsverbote aufgehoben würden. So kam es auch. Die Vielzahl der Anbieter hat aus dieser Zeit nichts gelernt. Ausnahmen bestätigen da nur die Regel.

1988 wurde am Mehringdamm 34 in Berlin-Kreuzberg im fünften Stock das „Kleinod unter den Kleinkunsttheatern“ gegründet. Seit mehr als 30 Jahren hält sich die Berliner Kabarett-Anstalt oder kurz BKA-Theater mit allem, was „schräg“ ist, über Wasser, ganz ohne öffentliche Gelder. Im Rahmen des vielfältigen Programmangebots wird auch die Reihe Unerhörte Musik veranstaltet, in der zeitgenössische Musik zu Gehör gebracht wird. Dabei vertrauen die Veranstalter auch auf die Anziehungskraft des Internets. Die Aufführungen werden live gestreamt. Die Vorteile liegen auf der Hand. Das weiß auch die Kölner Pianistin Vittoria Quartararo, die gern der Einladung gefolgt ist, ihr Programm Schattenzeit in Berlin vorzutragen.

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„Die Zeit umfasst zahllose Kammern und Dimensionen. Das Konzept der Schattenzeit bezieht sich genau auf das Gefühl, auf verschiedenen Zeitebenen zu leben. Alle in diesem Programm vertretenen Komponisten scheinen uns auf dieses Phänomen aufmerksam machen zu wollen. Es ist ein schwindelerregendes Eingeständnis: Die Formen der Zeit sind unendlich viel größer als unsere Gegenwart, und gleichzeitig überleben wir das Verschwinden von Millionen Jahre alten Bäumen. Dieses Verwirrungsgefühl auch bei alltäglichen Tätigkeiten zeigt uns, dass hinter apokalyptischen Visionen ein großes Potenzial steckt: sich auf das Unbekannte einzulassen und der anthropozentrischen Hybris entgegenzuwirken“, beschreibt die Künstlerin die Idee, die hinter ihrem Programm steckt. Um sie umzusetzen, hat Quartararo sieben Kompositionen aus den letzten 30 Jahren ausgewählt. Kassengift, sagen die einen, genau das, was wir brauchen, die anderen.

Den Anfang macht Quartararo mit Infinity, also Unendlichkeit, einem Stück, das Petra Strahovnik 2019 komponiert hat. Aufgeschrieben hat sie es für Klavier und zwei Metronome. Zusätzlich liegt eine hohle Styropor-Halbkugel auf den Saiten. So entsteht ein Tunnelklang, der stark an einen Marsch mit minimalistischen Strukturen erinnert. Mit Wellenrauschen werden die Besucher aus dem Stück entlassen. Fields of Time stammt von Elnaz Seyedi. Sie hat die Zeitfelder 2018 für Klavier komponiert. Und wie es offenbar dem Zeitgeist entspricht, reicht es nicht, die Klaviatur zu bedienen. Stattdessen werden zusätzlich die Saiten mit Filztrommelschlegeln bearbeitet. Auch hier arbeitet Quartararo mit äußerster Akribie. Es ist eine Lust, ihr zuzuschauen.

Unter einem Shōrō versteht man im Chinesischen einen Glockenturm, wie er Bestandteil traditioneller buddhistischer Tempelanlagen in Japan ist. Darüber hat Yoshihisa Taïra 1994 ein Campanile für Klavier komponiert. Dissonante Akkorde wechseln mit einzelnen Tönen, aber das Spiel bleibt im Gegensatz zum nachfolgenden Werk fließend. Rebecca Saunders Shadow aus dem Jahr 2013 ist das vielleicht extremste Stück des Abends. Es besteht aus dissonanten, aggressiven Angriffen auf das Gehör mit deutlichen Zäsuren, in denen das Stück tief in seine Schatten eintaucht. Sämtliche Sympathien werden ausgelöscht, die Bearbeitung des Klaviers hat fast etwas Bösartiges. Das ist ermüdend und anstrengend.

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Dagegen ist Zattere, das Werk von Silvia Borzelli aus dem Jahr 2013, fast schon eine Erholung. Zattere bedeutet im Deutschen Flöße, und wenn man das weiß, hat man schon bald eine bildliche Vorstellung von der Melodie, die immer wieder ins Stocken gerät. Je mehr die Elektronik ins Geschehen eingreift, desto anspruchsvoller wird das Spiel, das Quartararo brillant im Griff hat. Von Federico Perotti stammt Racconto di fieno, gerade mal zwei Jahre alt. Die Geschichte vom Heu trägt die Pianistin nicht zum ersten Mal vor. Offenbar gefallen ihr die beiden gegenläufigen Motive, die immer wieder von spitzen Tönen unterbrochen werden. Zum Abschluss gibt es eine Uraufführung. Farzia Fallah, Komponistin des Stücks, sitzt ebenfalls am Computer und grüßt in die Runde. Für die Miniatur von Düsseldorf nach Berlin zu reisen, lohnt selbst für die Komponistin nicht. Sie hat A Fragment of the Whole vor zwei Jahren geschrieben und das Stück im vergangenen Jahr noch einmal komplett überarbeitet. Einzeltöne zwischen Tasten und Saiten beschließen den Abend.

So sehr man den Ton der Übertragung loben darf, so enttäuschend ist die Bildübertragung. Stereotype Bilder, die in Pixeln ersaufen, sind ebenso ärgerlich wie die zehnminütige Verspätung der Übertragung. Dass am Schluss noch ein paar Kamerabewegungen drin sind, reißt es dann auch nicht mehr. Ein „irgendwie“ bei der Übertragung wird nicht für mehr Freunde des Livestreams sorgen. Zumal es der künstlerischen Leistung nicht im Geringsten gerecht wird. Daran müssen die Veranstalter also dringend arbeiten. Weil die Idee stimmt.

Michael S. Zerban