O-Ton

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Foto © Björn Hadem

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Romanesker Rausch

ROMA-ROMANTIK
(Diverse Komponisten)

Besuch am
14. November 2022
(Einmalige Aufführung)

 

Philharmonie Berlin

Die Violinen zaubern das Bild von Marktplätzen, Weinstuben und Tanzböden hervor. Darauf drehen sich im Ungarn der k.u.k.-Epoche junge Magyarinnen mit angehenden Offizieren in ihren Uniformen zur feurigen Musik. Die Tempi steigern sich, als wollten sie mit ihren Klangkaskaden die Lebensfreude in schwindelnde Höhen treiben. János Biharis Hadik óbester nótája és Friss in der Bearbeitung des Klarinettisten József Balogh für Streichorchester ist der erste Programmpunkt an diesem Abend, bei dem signifikante Muster der Roma-Musik und ihrer Instrumentierung im großen Saal zum Erlebnis werden. Die Berliner Philharmonie erfüllen Melodien alla zingarese, atemberaubende Tonfolgen und Tanzelemente nach „Zigeunerweisen“. Roma-Kapellen in den Cafés von Wien und Budapest formten sie einst zu einem eigenen Genre.

Biharis Stück ist eine Sammlung von Lieblingsliedern und -tänzen im schnellen Tempo eines nicht näher genannten „Colonel Hadik“. Es ist eine von 85 Kompositionen, die von dem 1764 geborenen Komponisten und Violinvirtuosen erhalten sind. Es sind vornehmlich Verbunkos, Lieder zur Anwerbung von Soldaten, und Tänze im Stil des Csárdás. 1814 spielt er auf Einladung vor dem Wiener Kongress. Liszt und Beethoven, in dessen Todesjahr 1827 Bihari stirbt, schätzen ihn.

Riccardo M Sahiti, Dirigent des Konzerts, ist Gründer und künstlerischer Leiter der von ihm gegründeten Roma- und Sinti-Philharmoniker. Er hat die Komposition des Auslösers einer Jahrzehnte währenden Geigerdynastie sehr bewusst in das Programm des Jubiläumskonzerts anlässlich des 20-jährigen Bestehens „seiner“ Philharmoniker aufgenommen. Bihari ist exemplarisch für die große Zahl von Komponisten unter den Roma und Sinti, die die europäische Klassik nachhaltig beeinflussen, bis heute. Die nótája unterstreichen zudem die Mission, die Sahiti, „Botschafter der Kultur der Roma“, umtreibt.

„Ich möchte jenen Klängen und Stilrichtungen eine öffentliche Bühne schaffen“, erklärt er seine Vision, „die in der Musikkultur der Roma verankert und aus dem europäischen Kulturerbe nicht wegzudenken sind.“ Zugleich will Sahiti, der Diskriminierung von ethnischen Minderheiten ganz persönlich erlebt hat, ein markantes Zeichen gegen Vernichtung und Vertreibung, gegen Diskriminierung und Abschottung setzen. Im Programmheft wird Sahiti als „ein Motor der Idee“ bezeichnet, „klangvoll gegen Vorurteile anzukämpfen, durch die Roma und Sinti nach wie vor gesellschaftliche Diskriminierung erfahren“.

Sahiti stammt aus dem serbischen Teil des heutigen Kosovo, aus Mitrovica, ist inzwischen deutscher Staatsbürger. Er hat Diskriminierung und Verfolgung in der eigenen Familie erlebt. Nun zeichnet der Vollblutmusiker mit dem Taktstock Interpretationsverweise auf der Bühne des bald 60 Jahre existierenden Tempels der Berliner Klassik. An dem Platz, an dem Dirigentenheroen wie Herbert von Karajan, Claudio Abbado, Simon Rattle stil- und programmprägend agiert, für die Aura einer Wallfahrtsstätte für Klassik-Pilger gesorgt haben.

Mit der zuvor gegebenen Johannes-Brahms-Komposition Akademische Festouvertüre von 1881 ist die Stimmung des Abends ausgemacht. Brahms preist in diesem launig-ironischen Stück an die Adresse der Philosophischen Fakultät der Universität Breslau die „alte Burschenherrlichkeit“. Sahiti bringt den Orchesterapparat – zusätzlich zu der Standardbesetzung Piccoloflöte, Kontrafagott, Tuba, Becken, Triangel, große Trommel – mit energischen Bewegungen rasch auf Touren. Aus den anfänglich verhalten grummelnden Streichern des Orchesters entwickelt sich, angetrieben von den prachtvollen Hörnern, von Trompeten und Holzbläsern, die fröhliche Umspielung von allerlei Liedgut der Alma Mater. Sie gipfelt im Gaudeamus igitur, dem „Lied der Lieder“, in dem festlichen Schlussjubel der Streicher zusammen mit dem machtvollen Chor der Bläser.

Foto © Björn Hadem

Weit vor Brahms sind Kompositionen alla zingarese im Barock nachweisbar, so etwa bei Telemann. Sie finden sich später bei Haydn, Mozart, Beethoven, de Falla und Sarasate. Liszt arbeitete sich komponierend in seinen Ungarischen Rhapsodien an einem Bild „ungarischer Nationalmusik“ auf der Basis von Materialien ab, die er auf seinen Reisen durch Ungarn und Rumänien aufzeichnet. Bartok und Kodály erforschen systematisch die Volksmusik ihrer ungarischen Heimat. Mehr als 80 Opern sind von der Zigeunermusik beeinflusst, darunter Kernstücke des Repertoires wie Carmen.

Solist in Wolfgang Amadeus Mozarts Konzert für Violine und Orchester Nr. 5 ist Erno Kallai, Konzertmeister der Ungarischen Staatsoper. Er spielt es auf seine ganz persönliche Weise, anders als etwa ein Arthur Grumiaux einst oder ein Pinchas Zukerman gelegentlich noch heute. Kallais Interpretation vermeidet jegliche präformierte Stilrichtung. Er legt es elegisch an, jedoch nicht manieriert, nicht akademisch, sondern inspiriert von einer unbändigen Liebe zu dieser Musik und seinem Instrument, einer Violine von Carlo Antonio Testore.

Eleganz erfüllt das Adagio des Mittelsatzes. Effektvoll gestaltet er beide Ecksätze mit Mozarts Einfall im Finale, sein Publikum für eine kurze Weile in das Land alla turca zu versetzen. Jede der drei Kadenzen baut Kallai quasi zu einem eigenen Solo-Konzert aus, um sich danach wieder werkgetreu dem Orchester anzuschließen. Bei diesem Solisten „ist alles marquiert“, wie Mozart 1777, zwei Jahre nach der Salzburger Uraufführung, in einem Brief an seinen Vater über den Interpreten der Mannheimer Hofkapelle schreibt, der seine Partitur in ein drei Sätze umfassendes Wunder verwandelt.

Ein musikalisches Wunder ist der Csárdás aus der Oper Ritter Pásmán von Johann Strauß (Sohn) zwar nicht, aber ein wahres Furioso, das die Roma- und Sinti-Philharmoniker aus der Partitur hervorbringen. Der Csárdás, ein traditioneller Tanz der Völker Ungarns und seiner Nachbarländer, fußt in der stark von Roma beeinflussten Volksmusik der Region. Johann Strauß jr. bahnt neben Franz Liszt dem Tanz mit seinen rasanten rhythmischen Figuren und flirrenden Synkopen das Entrée in die Kunstmusik. In seiner einzigen Oper beschwört Strauß mit diesem musikalischen Juwel das Ungarn zur Zeit der Renaissance. Unter Sahitis Dirigat avanciert das Stück zu einem zwar kurzen, aber glutvollen Vergnügen.

Wie lässt sich das spezifische Klangbild des Projektorchesters fassen, dessen gut 60 professionell ausgebildete Musiker, Angehörige der Minderheit der Sinti und Roma, in Berufsorchestern in unterschiedlichen europäischen Ländern beschäftigt sind? Die Wiedergabe von Antonín Dvořáks Symphonie Nr. 8 hilft ein Stück, der Begrifflichkeit näherzukommen. Der böhmische Komponist schöpft die Energie seiner umwerfenden Melodien, seiner faszinierenden Rhythmik und seiner packenden Harmonien aus den Quellen der heimatlichen Volksmusik, die wesentlich in der Musik der Roma gründet. Sahiti profiliert eben diesen Charakter der Symphonie in einem orchestralen Stil, der sich als romanesk beschreiben lässt. Zur Höchstform laufen die Philharmoniker vor allem im Adagio, dem zweiten Satz, auf, der mit seiner folkloristischen Färbung Dvoráks spirituelles Verhältnis zur Natur spiegelt.

Das Publikum in der unter den derzeitigen Vorzeichen nicht üppig, aber durchaus ansprechend besetzten Scharoun-Bau lässt sich vom Spirit der Roma- und Sinti-Philharmoniker mitreißen und spendet anhaltend, teils stehend Beifall. Auch lässt es sich gern mit zwei Zugaben verwöhnen. Eine davon stammt von Bihari. Zum Finale löst sich dabei die starre Formation auf. Klarinetten und Violinen verwandeln das Konzerthaus in eine wilde Session. Nur dass hier nicht die Stunde des Jazz schlägt, sondern vielleicht eine Geburtsstunde einer angemessenen Wahrnehmung dieser Variante der Roma-Musik. Sei es in der Erinnerung der Besucher, sei es demnächst in Konzerthäusern allenthalben.

Ralf Siepmann