O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Thomas Koy

Aktuelle Aufführungen

Funkstörung

RADIOLAND
(Christopher Verworner, Misha Cvijović)

Besuch am
25. Februar 2023
(Premiere am 26. Januar 2023)

 

Neuköllner Oper, Berlin

Mit dem Bild einer halb im grauen Wasser stehenden, grimmig dreinblickenden jungen Frau, die eine rote Fahne schwingt, wirbt die Produktion. Dazu der Titel Radioland; die Zusammenhänge sind unklar. „In Radioland erkunden wir eine andere Transformation: die Durchsetzung einer neuen Musik- und Weltanschauung durch die Beat- und Popmusik Ende der 60-er und zugleich der konkreten Utopie, eigene freie Staaten zu gründen – inspiriert von der so wahren wie unglaublichen Geschichte Sealands, einer Flakplattform vor der Küste Englands”, ist auf der Webseite der Neuköllner Oper zu lesen.

Wer den britischen Film Radio Rock Revolution von 2009 kennt, weiß, das kann lustig werden. Denn darin geht es um einen Piratensender vor der Küste Englands, der Rockmusik spielt. Die Jugend ist begeistert, da die BBC bis 1967 moralisch so zugeknöpft ist, dass sie diese Musik nicht spielt. In dem neuen Stück an der Neuköllner Oper geht es zudem um die wahre Figur des Patrick Roy Bates, der einen Piratensender, einen von vielen damals, leitete, und dann den unabhängigen Staat Sealand gründete. Die Produktion klingt vielversprechend, bei der unterhaltend historische Einblicke zu erwarten sind.

Spielort ist das Deck eines Flakschiffes; im Hintergrund die kleine Kabine, aus der gesendet wird, links und rechts davon die Band, die gleichzeitig die DJs darstellen. Das reduzierte, aber angemessene Bühnenbild geht auf Sabrina Rossetto zurück.

Der Preis der Freiheit von den Konventionen auf dem Lande ist die Gefangenschaft auf dem Meer, umgeben von einer unendlichen Einöde: das graue, raue Meer und die tiefhängenden Wolken, soweit das Auge reicht. Dieses Bild und trostlose Gefühl entsteht, wenn der Teenager Penny Bates, dargestellt von Mathilda Switala, vom Leben dort erzählt. Von der Energie der Rockmusik ist nichts zu spüren, vom Glamour der Popwelt kein Schimmer zu sehen. Zur Routine des Radiosendens gehört der Wetterbericht, gesprochen von der Mutter Joan, die Meik Van Severen spielt: „Und nun zum Wetter. Der Himmel ist blau. Blau, blau, blau, soweit das Auge reicht. Im Westen kriecht eine einsame Wolke in der Form einer Schildkröte melancholisch am Horizont entlang. Aber lassen Sie sich nicht täuschen: Bald wird es wieder windy, cloudy und stormy, denn wir alle wissen, wie sie ist, die Nordsee.“

Foto © Thomas Koy

Es ist klar, an Humor wurde in dem Stück von Lars Werner und Fabian Gerhardt gedacht. Darüber hinaus wird deutlich, dass es gar nicht einfach ist, ein abwechslungsreiches Radioprogramm zu bieten. Ein Interview mit der Mutter, geführt von ihrem Sohn, den Armin Wahedi Yeganeh gibt, ist fester, aber ausgelutschter Bestandteil des Programms. Penny wartet auf die „Ablösung“: neue „Schallplattenunterhalter“ sollen kommen, auch frisches Essen, denn die Konserven ist sie leid. Ja, das Ideal der Freiheit ihres Vaters Roy, von Stefanie Dietrich dargestellt, ist doch sehr abhängig vom Wohlwollen derer auf dem Festland. Roy war Offizier im Zweiten Weltkrieg, dessen Ende er noch nicht überwunden hat. Der Krieg hat auch eine besonders angeknackste Beziehung zu den Deutschen hinterlassen.

Diesen Inseln innerhalb der Geschichte, wo man der Produktion folgen kann, liegen dem Gefühl gegenüber, auf hoher See verloren zu sein. Zu Beginn singt der Vater „Die Revolution wird übertragen“ und skizziert den Ursprung seines ambitionierten Piratensenders. Leider übertönt die Musik seinen Gesang, so dass Fabian Gerhardts Liedtexte unverstanden im Äther verschwinden. Innerhalb der Haupthandlung tauchen immer wieder Gerichtsszenen auf, bei denen unklar ist, worauf sie sich beziehen. Zumal die Richter von der Familie selbst in schwarzen Roben gespielt werden.

Regisseur Fabian Gehardt macht es dem Publikum auch nicht leichter, dem Geschehen zu folgen, in dem er die Figuren verzerrt und sie, bis auf Penny, völlig unsympathisch erscheinen lässt. Einzig Mathilda Switala als Penny ist als rebellierender, unglücklicher, aber mit Menschenverstand ausgestatteter Teenager erträglich. Ihr hört man gerne zu, wenn sie erzählt oder singt. Insbesondere, als sie verrät, wie fein ihr Gehör geworden ist und sie wahrnimmt, wenn das Meer mit ihr „spricht“: Sie hört die Fische, die Quallen, die Meeresströmungen.

Foto © Thomas Koy

Armin Wahedi Yeganeh als ihr Bruder Michael ist ein blasser Charakter und ordnet sich dem Familiengefüge unter. Er versteht sich mit seiner Schwester, mit seinen Eltern arrangiert er sich. Im zweiten Akt, als er melancholisch die Ballade E mare libertas singen darf, kommt etwas Leben in die Figur.

Bei den Eltern Joan und Roy hat die Regie den zeitgenössischen Kniff des Geschlechtertauschs angewendet. Die kräftig gebaute Stefanie Dietrich übernimmt den Vater, Meik Van Severen, von großer, schlanker Statue, verkörpert die Mutter. Beide erfüllen zwar ihre Aufgabe innerhalb des Regiekonzepts gut, aber es dient ihnen nicht. Denn inszenatorisch gibt der Geschlechtertausch keinen Mehrwert, und die Regie lässt sie zu Karikaturen verkommen, was die Kostüme von Sophie Peters unterstreichen. Die fast orangefarbenen Perücken reduzieren Figuren zu Schablonen und schaffen Distanz.

Nach der Pause sind einige Plätze leer. Das Stück erhält aber eine Handlung. Nachdem die Familie durch einen Boten erfahren hat, dass die BBC einen Jugendmusiksender gegründet hat, der sämtliche DJs abgeworben hat, ist ein neues Geschäftsmodell vonnöten. Das Fürstentum Sealand wird gegründet, da es außerhalb britischer Hoheitsgewässer liegt. Ein Steuerparadies soll entstehen. Der windige Geschäftsmann Herman Z German, den Owen Peter Read spielt, bietet eine Investition an, um daraus einen Vergnügungsort, ein Las Vegas auf hoher See, quasi ein Mahagonny zu machen. Das geht nicht gut. Aber die Familie findet zu einem überraschenden Happy End.

Bis dahin haben Christopher Verworner und Misha Cvijović, die auch die musikalische Leitung übernommen haben, zwar ein tonal abwechslungsreiches Musikwerk geschaffen, aber keines, das animiert, es noch mal hören zu wollen.

Insgesamt trifft die Inszenierung keinen breiten Publikumsgeschmack. Da möchte man als Tropfen Wasser, lange vor Ende der Show, unbemerkt aus dem Saal in die Freiheit kullern. Bleibt zu hoffen, dass jemand anderes den Stoff noch einmal aufgreift und das Potenzial herausholt, das in ihm steckt.

Sabine Schereck