O-Ton

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Foto © Iko Freese

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Alles auf Anfang

ORFEO ED EURYDICE
(Christoph Willibald Gluck)

Besuch am
23. Januar 2022
(Premiere)

 

Komische Oper Berlin

Erinnern Sie sich an die Umschläge für Traueranzeigen? Die mit schwarzer Umrandung? So ist der erste Eindruck des Proszeniums, das sich auf eine klinisch weiße Bühne öffnet. Mittig: ein Tisch, zwei Stühle, ein Mann und eine Frau in moderner Kleidung, die sich stumm gegenübersitzen. Es ist alles gesagt. Szenen einer Ehe, letzter Akt. Er nimmt den schon gepackten Koffer und geht. Sie schneidet sich die Pulsadern auf. Erst mit diesem Akt der Verzweiflung wird Orfeo klar, was er für Euridice fühlt, und somit fängt die klassische Geschichte an, die dann in einem Krankenhaus weitergeht. Amor hat Mitleid mit seinem Leiden und bietet Orfeo eine Lösung: Er darf in die Unterwelt, um Euridice zu holen unter der Bedingung, sie nicht anzusehen auf dem Weg zurück zur Oberwelt. Auf seiner Suche nach Euridice muss Orfeo die Furien bezähmen, hier als eine gesichtslose, wogende, schwarzgekleidete Menschenmenge dargestellt, die ihn auf seinem Weg nicht nur aufhalten, sondern auch vernichten will. Als er dann Euridice findet, vergisst er, ihr die Bedingung mitzuteilen, so dass sie annimmt, er liebe sie doch nicht und ihm so eine Szene macht, dass er sie dann doch verzweifelt ansieht und somit zum zweiten Mal verliert.

Vor 260 Jahren hat diese Geschichte Christoph Willibald Gluck und seinen Librettisten Ranieri de’Calzabigi fasziniert. Damals, auf der Schwelle vom Barock zur Klassik, wurde diese Dichtung, die ursprünglich auf den Metamorphosen von Ovid basiert, musikalisch von Gluck 1762 mit großem Erfolg am Burgtheater in Wien herausgebracht. Es ist diese Fassung, auf Italienisch, die jetzt an der Komischen Oper Berlin Premiere hat.

Das abstrakte minimalistische Bühnenbild von Paolo Fantin verwandelt sich oft dank eines schwebenden Kubus‘, der immer wieder einen neuen Innenraum, eine Herzkammer freigibt: Hier finden die innigsten Emotionsausbrüche statt, hier stirbt Euridice, aber wird durch einen Schwall Wasser auch wieder zum Leben erweckt. Anderseits verwandelt sich der Raum in einen perspektivischen Trichter, der zur Unterwelt führt und durch den sich Orfeo mit gefühlten tausenden von Metern schwarzen Materials durchwühlen muss, nachdem er die Furien besänftigt hat. Dank der sehr gelungen Lichtdramaturgie von Alessandro Carletti bekommen die diversen Szenen und Ebenen der Ober- und Unterwelt zusätzliche pastellfarbige Dimensionen, deren psychologische Bedeutung allerdings nicht auf Anhieb erklärbar ist. Klaus Bruns besorgt die zeitlosen, banalen Kostüme der Protagonisten – Orfeo und Euridice sind wie du und ich gekleidet. Choreograf Thomas Wilhelm gibt den Furien als Einheit ein ganz eigenes Leben, ebenso wie er eine witzige Balletteinlage im dritten Akt zaubert, wo verdreifachte Schatten von Euridice immer wieder entschwinden, sehr zur Erschütterung Orfeos.

Foto © Iko Freese

Das Vocalconsort Berlin stellt den Chor mit seiner kommentierenden Funktion – mal als deprimierte Patienten im Krankenhaus, mal als gesichtslose, schwarzbekleidete Furien, immer in musikalischer Bestform, einstudiert von David Cavelius.

Dank der detaillierten Personenregie von Michieletto geben die drei Solisten ihren Rollen einen Realitätsbezug – der antike Mythos hat durchaus einen Bezug zu unserem heutigen Leben, da die darin behandelten Emotionen universell und zeitlos sind. Bemerkenswert, dass Countertenor Carlo Vistoli fast die gesamte Zeit auf der Bühne präsent ist. Darstellerisch und stimmlich voll engagiert, wenngleich sein Timbre nicht unbedingt die überirdische Süße besitzt, wie von Gluck vorgegeben, sondern eher einem schlanken, messerscharfen Stahl gleicht. Als Eurydice ist Nadja Mchantaf zwar von Anfang an immer wieder auf der Bühne, steigt aber erst im zweiten Akt stimmlich ein, dann aber mit wuchtigem Sopran ihre Wut auf Orfeo äußernd. Regisseur Michieletto hat die Rolle des Amors als Zauberer aufgewertet. Der klare Sopran von Josefine Mindus füllt diese Rolle mit Leben, wobei Amor auch eine Verwandlung durchlebt – vom schlecht bekleideten Amateur im ersten Akt bis zum professionellen Zauberer in Glitzerkostüm zum Schluss.

Daniel Bates ist als Spezialist für Alte Musik bekannt, besonders in England mit seinem eigenen Ensemble La Nuova Musica. Hier mit dem Orchester der Komischen Oper erweist er leider oft eine etwas schwere und laute Hand. Das Filigrane der Orchestrierung geht bisweilen verloren.

Michieletto setzt ein bittersüßes Happy End mit Fragezeichen, als er eine Wiederholung der ersten Szene zum Schluss zeigt. Szenen einer Ehe, erster Akt. Ingmar Bergman lässt grüßen.

Durchgehend großer Applaus für alle Darsteller und das Produktionsteam. Coronabedingt gibt es auch dieses Mal keine Premierenfeier im Foyer, aber Intendant Barrie Kosky bedankt sich ausführlich bei allen Mitwirkenden und dem Publikum in seinem sehr persönlichen Stil, der so ansteckend positiv wirkt, dass ihm der Zuspruch aller Anwesenden gewiss ist.

Zenaida des Aubris