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Aktuelle Aufführungen

Reality-TV im Musikgeschäft

DAS MUSIKGESCHÄFT
(Neo Hülcker)

Gesehen am
14. Februar 2021
(Premiere/Livestream)

 

Radialsystem Berlin

Wie im echten Leben ist das kleine Musikgeschäft aufgebaut – eine Ladentheke, diverse Instrumente, von Blockflöten über Saxofone bis zu exotischen E-Gitarreneinzelstücken – alles, was das Herz eines Musikers höherschlagen lässt. Und passgerecht zur aktuellen Tendenz:  Tele-Shopping. Die ersten Versuche des Moderators Armin Wieser sind noch etwas holprig und steif, aber beim vierten Mal funktionieren Natürlichkeit und Enthusiasmus ganz gut und es wird der erste Artikel angepriesen – eine Mundharmonika für zehn Euro. Kein einziger Anruf.  Für die nächsten Artikel gibt es schon mal einige Käufer, die Hoffnung auf größere Geschäfte steigt. Auch eine Büste in 3D-Druck der Komponistin Olga Neuwirth in grellem Pink wird vom Tisch weg für 79,80 Euro plus Versand weggeschnappt. Und so startet der Tag im Musikgeschäft. Um sicher zu gehen, dass es täglich dann doch Einnahmen gibt, ist der Laden an einen Paketdienst angegliedert – es wird eifrig eingeliefert und abgeholt.

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Im Laufe des Tages kommen vollkommen unterschiedliche Kunden vorbei: Da ist der kleine Junge, der wie ein Teufel gekonnt auf dem Schlagzeug loslegt – im echten Leben David Nemtsov, 10 Jahre alt, den Namen sollte man sich merken. Eine Girl-Metal-Band probiert sich im Verstärker-Testraum im Keller an diversen Gitarren. Genderneutral gibt „Die Boss“ Heinrich Horwitz Anweisungen an die gute Seele des Ladens, Armin Wieser. Die Klarinettistin Carola Schaal schneit aufgeregt herein und sucht ein neues Mundstück für ihr Instrument für eine gleich beginnende Aufnahme. Eine Kundin kommt rein, Hände werden desinfiziert und sie wird von Armin argwöhnisch beäugt. Obwohl mit Maske, wird sie als die berühmte Chanteuse Valerie Renay erkannt. Sie probiert diverse Instrumente aus. Im Hintergrund wird geflüstert „ob sie ein Video mit uns machen würde?“ oder „Let’s do it!“. Mit dem „Dominion Synth“ wird also ein Video gedreht. Valerie beschreibt den Synth. Eine Kirchenmusikerin braucht 30 Blockflöten aus Holz – die müssen bestellt werden. Ein Mann probiert ein Saxofon aus und stiehlt es unter seinem Sakko. Allerdings wird der Diebstahl im letzten Tele-Shopping-Einsatz des Tages ausgerufen und die Zuschauer werden gebeten, Hinweise zu geben. Was dann auch klappt.

Es wird die Realität haargenau nachgebaut – wer große Musik zu hören erwartet, wird enttäuscht. Hier werden diverse Instrumente auf Ton und Timbre geprüft – es wird gezupft, gestrichen, geklopft, gekratzt und stumm gespielt. Dazu kommen noch die total banalen Töne des Abreißens von Packbändern, das Aufschneiden von Paketen. Es wird auch ein „Unboxing-Video“ gedreht – ein Hohner-Akkordeon wird ausgepackt und die verschiedenen „Features“ vorgeführt. Die Boss fragt „Hat es Dir Spass gemacht?“. „Ja, total“ ist die Antwort, als wäre gerade ein orgiastischer Sexakt vollzogen. In der Reparaturecke widmet sich eine junge Frau den meist elektronischen Problemen und erstellt ganz nebenbei neue Instrumente.

Das Musikgeschäft wird auf der Bühne des Berliner Radialsystems ohne Publikum aufgebaut und vorgetragen.  In diesem Fall für den Zuschauer ein Glücksfall, da das intime Soziotop des Ladens viel besser – weil näher aufgenommen – vermittelt werden kann. Auch wenn es Längen gibt – die Vorstellung dauert knapp über drei ununterbrochene Stunden lang – so gibt sie Einblicke in ein sehr menschliches Geschäft: Hier kommen Kunden mit gloriosen Plänen und hochgreifende Zielen, verfallen in Nostalgie und Erinnerungen und finden Trost, Antworten und Hoffnung. Es gibt nur zwei Livestreams, am 13. und 14. Februar. Es ist zu hoffen, dass es weitere Livestreams oder sogar Live-Aufführungen geben wird.

Zenaida des Aubris