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Nachwuchs beweist sich

MARIE JACQUOT DIRIGIERT DIE KARAJAN-AKADEMIE
(Hanns Eisler, Kurt Weill)

Gesehen am
16. Februar 2021
(Premiere/Livestream)

 

Berliner Philharmonie

Anfang der 1970-er Jahre hatte Herbert von Karajan die damals neue Idee, eine Akademie zu gründen, um die Ausbildung des Orchesternachwuchses bei den Berliner Philharmonikern zu organisieren. Die Karajan-Akademie, wie sie bis heute heißt, ist ein Win-Win-System. Die Berliner Philharmoniker können talentierte Studienabsolventen an sich binden und unter den besten auswählen. Die Auserwählten bekommen so die Gelegenheit, sich bei verschiedensten Gelegenheiten in einem professionellen Orchester auf dessen Aufgaben vorzubereiten. Ausgebildet werden sie von den Musikern des Orchesters. Wer anschließend nicht bei den Berliner Philharmonikern übernommen wird – das Orchester besteht heute zu etwa einem Drittel aus Stipendiaten der Karajan-Akademie – hat beste Aussichten, in einem Orchester ähnlicher Qualität eine Anstellung zu finden. Am zweiten Tag des Festivals Die Goldenen Zwanziger, das vom 13. bis zum 27. Februar in der Digital Concert Hall stattfindet, können die Stipendiaten ihr Können mit der Musik des 20. Jahrhunderts unter Beweis stellen. Ehe der Livestream pünktlich um 20 Uhr beginnt, lohnt es sich, noch ein wenig auf der Website der Berliner Philharmoniker zu stöbern. Da findet man dann beispielsweise auch noch einen interessanten Artikel darüber, wie es den Berliner Philharmonikern selbst in den 1920-er Jahren erging.

1924 ist Berlin ein Schmelztiegel. Während Prekariat und Kleinbürgertum um das tägliche Überleben kämpfen, oft in lebensunwürdigen Unterkünften hausen, tanzt der Vulkan. Von halbseiden bis grellbunt reicht das Gesellschaftsleben, in der Kunst hält die „Neue Sachlichkeit“ Einkehr. Das Lebensgefühl von Aufbruch ist so stark, dass es einen beängstigen kann. Wie kann man das Fieber dieser Zeit, dass bis 1929 anhalten sollte, in der Musik darstellen, ohne Bilder zu zeigen und große Begleittexte bereitzustellen? Die Berliner Philharmoniker behaupten, das zu können. Helfen sollen ihnen dabei Komponisten jener Zeit, allen voran Kurt Weill, dessen Konzerte fast alle im Laufe des Festivals gespielt werden sollen.

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Nach dem Erwerb der Eintrittskarte und dem ersten Besuch erweist sich der zweite Besuch des Festivals – zumindest, wenn man auf dem gleichen Gerät schaut – als noch unkomplizierter. Keine lästigen Rückfragen, keine erneute Eingabe eines Codes, man klickt sich einfach durch, man gehört jetzt dazu. Gespannt wartet man auf das Intro. Was werden die Festivalmacher diesmal über die Goldenen Zwanziger zu erzählen haben? Aber statt neuer Informationen über die Zeit, über die es so viel zu erzählen gibt, wird die Einleitung von Noah Bendix-Bagley, dem Ersten Konzertmeister, erneut gezeigt. Das ist ein bisschen wenig und verdirbt den Live-Eindruck, ist aber nicht kriegsentscheidend. Über den Erfolg des Abends entscheidet die Musik. Und die ist bei Marie Jacquot in denkbar guten Händen. Sie hat ein überragend gutes Gespür für die Musik entwickelt, die sie nach eigenen Angaben zum ersten Mal anlässlich des Festivals dirigiert. Da geht es mitunter zackig zur Sache, wenn es der Sache dient. Im Pauseninterview mit dem erfahrenen Kulturmanager und Chefredakteur des hauseigenen Magazins 128, Oliver Hilmes, der überraschend vorbereitete Fragen vom Blatt ablesen und auf die Einflüsse anderer Musiker auf die Komponisten des Abends verweisen muss, schildert die Dirigentin packend und zutreffend, welche Eindrücke die Musik vermittelt. Das macht richtig Spaß, zumal wenn man sich in seinen eigenen Empfindungen bestätigt fühlt.

1932 erschien ein Film, der bis heute nicht in Vergessenheit geraten ist und damals die Gemüter erheblich erhitzte. Kuhle Wampe war in mehrfacher Hinsicht ein besonderer Film. Kuhle Wampe: So hieß eine Laubenkolonie am Berliner Stadtrand mit provisorischen Quartieren, die deshalb existierte, weil die Mieten in der Stadt zu hoch waren. Als einer der ersten Tonfilme schrieb unter anderem Bertolt Brecht am Drehbuch mit, um daraus eine Mischung aus Spiel- und Dokumentarfilm zu machen. Die bedrückenden Bilder sollte Hanns Eisler vertonen. Der wollte aber nicht das süßlich-traurige Gedudel, sondern eine Musik, die Kontraste schafft. Es ging ihm nicht um das Mitleid, sondern darum, den Protest des Zuschauers zu provozieren. Und das gelang ihm in eindrucksvoller Weise, zumindest in der Suite für Orchester Nr. 3 opus 26, in der er später die Filmmusik zusammenfasste. Wenn die Karajan-Akademisten loslegen, entstehen die Bilder im Kopf. Ob es das kraftvoll-stampfende Präludium, das beängstigend ruhige Intermezzo, das Fahrradrennen oder das Solidaritätslied im vierten Satz ist: Auch ohne Film vermittelt Eisler einen realistischen Eindruck jener Zeit. Ein Realismus, der ihn später in Amerika seine Karriere kosten sollte.

Etwas weniger dramatisch, aber ebenso eindrucksvoll geht es in Kurt Weills Konzert für Violine und Blasorchester zu. Der Clou: Weill setzt hier die Geige gegen ein überwiegend mit Bläsern besetztes Orchester. Für den Geiger, so attestiert es Solist Kolja Blacher, eine „athletische Anstrengung“. Und das glaubt man ihm unbenommen, wenn man ihm auf seinem Lauf durch die drei Sätze folgt, den er nur scheinbar leichtfüßig absolviert. Weill hat hier die „Neue Sachlichkeit“ wörtlich genommen, kein Werk für die Ewigkeit geschrieben, sondern aus dem Hier und Jetzt übersetzt. Die Zusammenarbeit zwischen den jungen Musikern und dem erfahrenen Solisten funktioniert vorzüglich. Ausgeglichen ist die Balance, alle haben Luft zum Atmen, obwohl ihnen die eigentlich gerade im Fieber der Großstadt fehlt. Das gelingt ganz wunderbar, wenn Jacquot hier die Fäden in der Hand hält.

Und dann zeigen die Berliner Philharmoniker, dass auch bei ihnen „nur“ Menschen arbeiten. Fast schon wächst der Ärger, weil nach dem zweiten Konzert eine Werbung eingeblendet wird. Nein, Werbung will hier wirklich niemand sehen, der seine Eintrittskarte gelöst hat, auch dann nicht, wenn es Eigenwerbung ist. Nach Ablauf des Trailers aber wird klar: Es läuft gerade etwas ein bisschen schief. Als der Hinweis auftaucht, dass es gleich weiterginge, ist doch alles in Ordnung. Ist schließlich eine Live-Übertragung. Und wo auf der Welt läuft die schon einwandfrei ab? Die Pause reicht für den Gang zum Kühlschrank und was man sonst noch so zu erledigen hat, ehe es mit der gewohnten Qualität in Kameraführung und Tonqualität weitergeht.

Im dritten Teil gibt es die Symphonie Nr. 2 von Kurt Weill, die nach den ersten beiden Teilen schon beinahe „langweilig“ wirkt. Und das liegt beileibe nicht an den jungen Musikern oder ihrer musikalischen Leitung, Marie Jacquot. Es liegt daran, dass Weill hier fast schon romantisch geschrieben hat. Andere würden vielleicht sagen, er hat hier eine höhere künstlerische Ebene erreicht. Hier gibt es keine „Neue Sachlichkeit“, sondern emotionale Klänge zum Flüchtlingsdasein. Wie so oft bei Festivals wird auch hier der vorgegebene Rahmen nicht eingehalten. Der innerhalb eines Jahrzehnts so erfolgreiche Komponist Weill beginnt das Werk nämlich erst 1933, kurz, ehe er nach Frankreich flieht. Also nichts mit Goldenen Zwanzigern. Die sind längst verblasst, durch die Weltwirtschaftskrise in eine Zeit des Schreckens verwandelt. Den aufkommenden Terror konnte Weill wohl ahnen, aber nicht wissen.

Die Nachwuchsmusiker haben ihre Arbeit an diesem Abend mit Bravour erledigt. Sie haben ihr Publikum wenigstens in den ersten beiden Teilen mit dem Fieber jener Zeit angesteckt. Und neugierig gemacht auf das, was noch kommt. Am 20. Februar geht es weiter mit Thomas Søndergård, der Werke Prokofjews und Sibelius‘ in Beziehung zu einem der wichtigsten Werke Kurt Weills setzen wird.

Michael S. Zerban