Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
JENŮFA
(Leoš Janáček)
Besuch am
22. April 2023
(Premiere am 13. Februar 2021)
Der Oper wohnt eine musikalisch künstlerisch konnotierte Zeitzeugenschaft inne. Sie spannt einen Bogen über Jahrhunderte und verbindet sie mit aktuellen Aufführungen an verschiedenen Opernhäusern zu einer außerordentlichen Aktualität. So erlebt mit wenigen Tagen Abstand die von Georg Friedrich Händels Oper Giulio Cesare in Egitto am Opernhaus Leipzig und die von Leoš Janáčeks Oper Jenůfa an der Staatsoper Berlin.
Obwohl ihre Uraufführungen fast 200 Jahre auseinanderliegen – Giulio Cesare in Egitto 1724; Jenůfa 1904 – führen ihre jeweiligen Neuinszenierungen diejenige in Berlin 2021 mit der in Leipzig 2023 auf überraschende Weise zusammen. Das Duo Damiano Michieletto als Regisseur und Paolo Fantin als Bühnenbildner ist für diesen Clou verantwortlich. Beide so unterschiedliche Opern rahmen den musikhistorischen Kanon der Oper von Opera seria bis zum Expressionismus der Moderne.
Nach wenigen Minuten der Jenůfa-Aufführung erinnert die rechtwinklig spitz ins Parkett ragende, weißbläulich ausgeleuchtete Bühne Fantins und Michielettos inszenatorischen Markierungen mit einem roten Faden, mit einem verletzenden Messer sowie mit eiskalt temperierten Referenzobjekten an die dramaturgische Bildsprache von Giulio Cesare in Egitto. Sie begleiten fortan unweigerlich die Berliner Aufführung als Selbstzitate.
Den von den Cesare-Parzen gesponnenen, roten Schicksalsfaden legt Michieletto als roten Strickwollfaden Jenůfa in die Hände. Sie strickt ihn ahnungsvoll mit gesenktem Kopf. Das rotwollene Kinderkleidchen wird zum blutroten Leichenhemdchen. Mit dem Xylofon-artigen Auftaktmotiv setzen satte dunkle Farbklänge eine harmonische Struktur, die in der Melodik sowohl volksmusikalische als auch expressionistisch aufgeladene Anklänge haben.
Foto © Bernd Uhlig
Michieletto inszeniert die Geschichte einer durch den versoffenen Steva schwangeren und letztendlich von ihm verstoßenen Dorfschönen Jenůfa – nach Gabriela Preissova – als eine im religiösen Wahn vereiste. Liebe, Mitmenschlichkeit und Fürsorge erfrieren, noch bevor sie sie leben können respektive dürfen. Die Küsterin, Jenůfas Stiefmutter, wird nicht nur zur Mörderin des in Heimlichkeit vor den Dorfbewohnern versteckt geborenen Kindes. Sie spinnt, wo sie nur kann, Intrigen und Hass.
Ein Teppich, Symbol familiärer Gemeinsamkeit, funktioniert in Michielettos Inszenierung als Referenzobjekt. Im ersten Akt liegt auf ihm ein Eisblock. Steva zerstückelt ihn in seinem vom Alkohol stimulierten Masochismus. Keine Heirat, allein die Saufkumpane sind ihm Orientierung. Jenůfa rutscht der rote Wollfaden vor Schrecken aus den Händen.
Im zweiten Akt steht auf dem Teppich die Krippe mit dem in roter Wolle gewickelten Neugeborenen. In Eiseskälte gezeugt, ist es schutzlos dem Sünden-Wahn der Küsterin ausgeliefert. Im dritten wird sie den Teppich zur Seite ziehen. Ein schwarzer Fleck wird sichtbar. Ein Eisloch, in das sie das getötete Kind getaucht hat. Ein rotes Wollknäuel quillt an die Oberfläche.
Hölzerne, rechtwinklige Bänke funktionalisiert Fantin szenenspezifisch als Sitzmöbel, Wand oder chaotisches Hindernis. Aus dem Schnürboden senkt sich in extremer, gleichwohl konsequenter Zeitlupe ein riesiger Eiszapfen. Jenůfas von einer Spindel aufgelassener, horizontal gespannter Faden bietet vergeblich Einhalt. Auch hier nimmt das Schicksal seinen Lauf. Dass es mit dem lange abgewiesenen Laca trotz alledem ein Happy End gibt, kann metaphorisch als Janáčeks optimistisch geöffnete Seitentür verstanden werden.
Die atemberaubend kraftvolle Musiksprache Janáčeks, das in ihr verhängnisvoll unmenschlich Aufscheinende interpretiert Antonello Manacorda mit der Staatskapelle Berlin mit kontrapunktischer Sensibilität. Janáčeks literarisch lyrische Konnotationen des orchestralen Satz fußen auf polyrhythmischen und repetitiven Wortmelodien.
Extrem lange Generalpausen extemporieren szenische Übergänge zwischen Wirklichkeit und Wahn. In dem Moment, in dem Jenůfa aus dem von der Küsterin lancierten langen Schlaf erwacht und das leere Bett sieht – „Wo bin ich? Hier ist Mütterchens Stube“ – atmet die Musik tief ein. Ebenso signalisiert im dritten Akt Jenůfas Fürsprache angesichts der überführten Mörderin mit einer Generalpause einen Richtungswechsel. Was hat sich Jenůfa nur in den Kopf gesetzt?
Foto © Bernd Uhlig
Michielettos Inszenierung in Fantins von Alessandro Carletti fokussiert beleuchteter Bühnenraumorganisation animiert Manacorda die Staatskapelle und den Staatsopernchor unter Leitung von Martin Wright zu wahnsinnig schillernden Klängen. Die Solisten, die Michieletto für seine Inszenierung hör- und sichtbar überzeugen und begeistern kann, sind designierte Pluspunkte, die diese Inszenierung nobilitieren.
Asmik Grigorians dunkel herb getönter, kristallklarer Sopran leitet Jenůfa durch alle Untiefen und Widrigkeiten bis zum finalen Glückversprechen: „Oh, Laca, mein Herz … zu Dir hat mich nun die Liebe, die wahre Liebe geführt, mit der der Herrgott zufrieden ist“. Ihr steht Evelyn Herlitzius als Küsterin in nichts nach. Der in religiösem Wahn Gefangenen leiht sie einen grell kreischenden, selbstmitleidig gefärbten Sopran. Die Soprane von Grigorian und Herlitzius im Widerstreit der Protagonistinnen, geeint in einer beeindruckenden Gesangskultur.
Der quecksilbrig changierende Tenor von Stephan Rügamer charakterisiert den gebeutelten, gleichwohl empathisch menschlich aufrichtig handelnden Laca glaubwürdig in seiner Zerrissenheit als Sieger nach Punkten.
Die Figur des eindeutig uneindeutigen Steva misst Edgardas Montvidas Tenor in den Facetten mit dem vom Libretto, nach Umfang und Präsenz unterschiedlich eingeräumten Gesangsanteilen charaktervoll aus.
Nach dem Leipziger Giulio Cesare in Egitto wickelt Michieletto mit Jenůfa in Berlin einen weiteren Schicksalsfaden aus. Seinen Inszenierungen wohnt ein ganz eigener Zauber inne. Der begeisterte Beifall in Berlin steht dem in Leipzig nicht nach. Große Opernabende mit Damiano Michieletto.
Peter E. Rytz