O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Bettina Stöß

Aktuelle Aufführungen

Heißes Psycho-Drama in kühler Umgebung

JENUFA
(Leoš Janáček)

Besuch am
19. März 2020
(Livestream)

 

Deutsche Oper Berlin

Als kleines Trostpflästerchen in der kulturellen Wüste dieser Tage stellt die Deutsche Oper Berlin drei ihrer Produktionen kostenlos als Livestream im Internet zur Verfügung. Den Auftakt bietet man mit Christof Loys Inszenierung von Leoš Janáčeks bekanntester Oper Jenufa aus dem Jahre 2012. Abgesehen davon, dass die Bemühungen der großen Opernhäuser, die augenblickliche Durststrecke so gut wie möglich mit online-Aufzeichnungen zu überbrücken, Respekt und Dank verdienen, können sie zwar die Entzugserscheinungen eingefleischter Opern-Fans mildern, aber das Erlebnis eines echten Theaterabends nicht ersetzen. Auch nicht, wenn das Kamerateam so professionell vorgeht wie im Fall der Berliner Jenufa. Die flexible Kameraführung wechselt szenengerecht zwischen Groß- und Detailaufnahmen. Nicht ganz so glücklich gelingt die Tonqualität. Die Stimmen drängen sich sehr stark in den Vordergrund, während der Klang des Orchesters zu nebulös wirkt. Etwas farblos, dramatisch ein wenig blutarm und recht dünn, so dass die Leistung von Maestro Donald Runnicles am Pult des Orchesters der Deutschen Oper Berlin nicht eindeutig zu beurteilen ist. Wenig nutzerfreundlich ist die Praxis, auf Untertitel der tschechisch gesungenen Texte zu verzichten.

Fest steht, dass man sich an einem geradezu idealen Gesangsensemble erfreuen kann und dass Christof Loy ein wie gewohnt exakt ausgearbeitetes Psychogramm der gestörten Seelen entfaltet. Und zwar erstaunlich konventionell. Er konzentriert sich auf die Konflikte, mit denen jede der Hauptpersonen zu kämpfen hat. Die Rolle der Dorfgesellschaft und ihrer verkrusteten Traditionen und Verhaltensregeln kommt dabei zu kurz. Der Chor tanzt recht unverbindlich und wird dabei von Loy eher dekorativ behandelt. Umso intensiver kümmert er sich um die zentralen Gestalten, also um Jenufa und ihre Ziehmutter sowie um die alles andere als männlichen Männer Laca und Števa. Dabei dürfen die Figuren ihre inneren Zwänge voll ausspielen, bisweilen händeringend Klischees theatralischer Verzweiflung bedienend.

Dass Loys Personenführung nicht in museale Gleise gerät, ist der abstrakt-nüchternen Ausstattung von Dirk Becker zu verdanken. Weiße Wände markieren zum Orchestervorspiel die Mauern der Gefängniszelle, in der die Küsterin ihre letzten Jahre verbringen wird. Und diese Wände bilden auch die engen Grenzen der Existenz Jenufas. Mauern, die sich ab und zu öffnen und Ausblicke auf fast idyllische Naturlandschaften freigeben, sich aber schnell wieder schließen. Die befreiende Öffnung am Ende, wenn Jenufa und Laca das Dorf verlassen, hinterlässt einen schalen Beigeschmack. Tiefes Schwarz erwartet das Paar auf seine Reise in eine ungewisse Zukunft.

Das Ambiente schafft eine gewisse kühle Distanz zur mit heißer Nadel gestrickten Musik. Und auch der bunte Kostüm-Mix von Judith Weihrauch aus modernen Alltags- und böhmischen Bauernkleidern verhindert eine zu enge Identifikation mit den Figuren.

Die größte Wirkung geht ohnehin von den Sängern aus, denen nicht nur stimmlich, sondern dank ihrer persönlichen Ausstrahlung auch gestalterisch faszinierende Rollenstudien gelingen. Und das betrifft sogar Nebenrollen wie die der alten Buryja, in der die große Hanna Schwarz auch in fortgeschrittenem Alter noch mit einer nahezu intakten Stimme begeistern kann. Auch Jennifer Larmores Stimme hat nichts von ihrem Glanz verloren, so dass sie die Partie der Küsterin eindringlich, ohne vokale Kraftakte und nennenswerte Verschleißerscheinungen voll aussingen kann. Vom Charisma ihrer Bühnenerscheinung ganz zu schweigen. Sie verkörpert eine Küsterin im Vollbesitz ihrer geistigen und stimmlichen Kräfte ohne den geringsten Hauch greisenhafter Patina.

Mit ihrem kerngesunden Sopran vermag Michaela Kaune in der Titelrolle jede Fassette der psychischen Fieberkurven, die Jenufa durchleidet, unforciert, aber nachdrücklich zum Ausdruck zu bringen. Wobei sie sich mitunter naiver und schwächer stellen muss als nötig. Die Charaktere der so verschiedenen männlichen Rivalen Laca und Števa stellen Will Hartmann und Ladislav Elgr präzise dar. Und Nadine Secunde und Martina Welschenbach bieten als Bürgermeistersgattin und -töchterlein ein Kabinettstückchen an Spielfreude.

Das Publikum im Off überschlägt sich vor Begeisterung für eine vokal herausragende und szenisch sorgfältig ausgearbeitete Inszenierung, die allerdings manchen Aspekt des Stücks vernachlässigt. Als Linderung für die aufführungsfreien Zeiten taugt sie allemal.

Pedro Obiera