O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Barbara Braun

Aktuelle Aufführungen

Ein Traum in Weiß

INTOLLERANZA 1960
(Luigi Nono)

Besuch am
25. September 2022
(Premiere am 23. September 2022)

 

Komische Oper Berlin

Die erste Inszenierung der Saison 2022/23 an der Komischen Oper und zugleich Startschuss für die Doppelintendanz von Philip Bröking und Susanne Moser, hätte visuell nicht spektakulärer sein können: Der gesamte Zuschauerraum ist mit endlosen Metern weißen, semi-transparenten Tülls bedeckt.  Die Umwandlung des Zuschauerraums der Komischen Oper durch das Bühnenbild von Márton Ágh erinnert an Verpackungskünstler Christo, der mit Jeanne Claude den Reichstag in Berlin oder zuletzt den Arc de Triomphe in Paris einpackte. Das Parkett und der Orchestergraben sind großenteils mit einer Plattform überdeckt, die wiederum eisschollenähnliche Strukturen aufweist. Leichter Nebel schwebt über die postapokalyptische Landschaft hinweg – dafür erhalten die Zuschauer in den ersten zwei Reihen sogar ein Tülllätzchen zum Umhängen. Das Orchester ist in den zweiten Rang verbannt und kann so einen – auch explizit vom Komponisten erwünschten – quadrophonischen Stereosound erzeugen. Auf der eigentlichen Bühne ist eine Tribüne für das Publikum aufgebaut. Die Ränge und der große Kronenleuchter sind ebenfalls mit dem endlosen weißen Tüll eingehüllt. Die Beleuchtung von Olaf Freese taucht die weiße, verlassene, menschen-unfreundliche Landschaft in kaltes Licht.

Es ist nicht nur dieser erste Eindruck, der ein „Wow“ hervorruft. Es ist auch der dramaturgische Ansatz für den Auftakt der neuen Intendanz. Die Perspektive eines Opernbesuches soll sich ändern. Nicht nur optisch, auch inhaltlich. Immerhin war Intolleranza 1960 bei seiner Uraufführung im La Fenice in Venedig vor sechzig Jahren heftig umstritten.  Die „szenische Aktion“, wie Luigi Nono sein Werk bezeichnete, nach einer Idee von Angelo Maria Ripellino und hier mit einem Text von Carolin Emcke ergänzt, sollte die bürgerliche Gesellschaft wach rütteln.

Die Handlung dreht sich um die Irrwege eines Emigranten, der in einer Vielzahl von Szenarien der modernen kapitalistischen Gesellschaft gefangen ist: Ausbeutung der Arbeiterklasse, politische Verhaftung und Folter, Internierung im Konzentrationslager, Flucht und Verlassenheit. Dabei steht ihm die Stimme der Geschichte prominent bei und versucht, Zusammenhänge und Hintergründe zu erläutern. Es ist erschreckend, wie aktuell diese Texte sind, wie sich zwar die Akteure und Orte geändert haben, aber die Themen und Problematiken überhaupt nicht.

Regisseur Marco Štorman lässt seine Sänger und den Chor aus unterschiedlichen Eingängen im Zuschauerraum auf der postapokalyptischen Bühne auftreten. Er macht aus Nonos ursprünglich angedachten Wirtschaftsemigranten einen Flüchtling, der sehr wohl in die heutige gesellschaftliche und politische Landschaft passt. Die allegorisch angedeuteten Figuren der Sänger treten gegeneinander auf, eine konventionelle Handlung gibt es nicht. Hier wird über die Prinzipien der Ungerechtigkeiten gesungen: Als Emigrant gibt Sean Panikkar dieser Figur Pathos und Kraft zugleich; sein wohlklingender Tenor klagt an und fleht um Verständnis und Gerechtigkeit. Gloria Rehm ist die Gefährtin, die er auf seiner Flucht trifft, die mit ihrem silbrigen Sopran versucht, ihm Trost zu geben. Eine Frau, Mezzosopran Deniz Uzun, umringt die beiden und gibt der jungen Beziehung Hoffnung. Eine von Regisseur Marco Štorman dazu erfundene Figur ist die des Engels der Geschichte – Berliner Ensemble-Mitglied Ilse Ritter ist dieser sehr irdische Engel, der die einzelnen Elemente des Werkes im Hier und Jetzt verankert.  Der große Chor – auch er ganz in Weiß mit Kostümen von Sara Schwartz gekleidet und verschleiert, einstudiert von David Cavelius, kommentiert, bedroht und tröstet den Emigranten.

Gabriel Feltz dirigiert das Orchester vom zweiten Rang, wobei sich die schrille, diskordante und gequälte Musik von Luigi Nono auf den Zuschauer regelrecht herabsenkt. Immerhin war er es, der 1958 den Begriff der Darmstädter Schule schuf, um die in den 1950-er Jahren von ihm und Pierre Boulez, Bruno Maderna und Karlheinz Stockhausen komponierte Musik zu beschreiben. Zu diesem szenischen Konzept passt sie hervorragend

Tatsächlich gibt es nur sechs Aufführungen des Werkes, danach muss der Zuschauerraum der Komischen Oper wieder abgebaut werden, um den normalen Opernbetrieb zuzulassen. Der langanhaltende Applaus für alle Beteiligten zeigt, dass das Experiment durchaus vom Publikum gewürdigt und die Relevanz der Oper – nicht nur dieses Werk, sondern das Genre an sich – in unserer heutigen Gesellschaft bestätigt wird.

Zenaida des Aubris