O-Ton

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Grand Opéra an der Komischen Oper

HAMLET
(Thomas Ambroise)

Besuch am
16. April 2023
(Premiere)

 

Komische Oper Berlin

Unter dem Genre Grand Opéra wird Hamlet von Ambroise Thomas nicht ohne Grund geführt. Die selten aufgeführte Oper kommt der Bezeichnung voll nach: opulente Musik, opulente Orchestrierung, klassisches Thema – immerhin Shakespeares berühmtestes Werk, großer Chor, nicht unbedingt kurz – gute drei Stunden plus Pause, und nicht zu vergessen, die Notwendigkeit wirklich exzellenter Hauptdarsteller. Dieser Herausforderung hat sich die Komische Oper Berlin gestellt. Und gewonnen. Zusammen mit dem Leitungsteam von Dirigentin Marie Jacquot und Regisseurin Nadja Loschky.

Die Handlung der 1868 in Paris uraufgeführten Oper, mit einem Libretto von Michel Carré und Jules Barbier, dreht sich um den dänischen Prinzen Hamlet, der nach dem Mord an seinem Vater Rache gegen seinen Onkel Claudius, den vermeintlichen Mörder, sucht. Die Oper folgt Hamlets Racheplan, seinen vorgetäuschten Wahnsinn, den Selbstmord seiner Verlobten Ophélie und seine Genugtuung dem Vater gegenüber. Hier wird die Pariser Urfassung gespielt, in der Hamlet seinen Onkel Claudius tötet und selbst zum König ausgerufen wird.

Bei Loschky fängt die Oper in der Eingangshalle eines repräsentativen Schlosses an – vielleicht ist es sogar Kronborg, wo sich auch Shakespeares Drama abspielt und das auch noch in Dänemark zu besuchen ist. Bühnenbildner Etienne Pluss baut eine breite Treppe mit einer Balustrade. Links und rechts des Proszeniums befinden sich kleine Nischen, von wo die Darsteller gut die Aktion auf der Bühne beobachten können.  Mit Pomp und Glorie erscheint das frischvermählte Königspaar – Hamlets Mutter Getrude, die sich gerade mit Claudius, dem Bruder ihres verstorbenen Mannes, verheiratet hat. Hamlet und der ihm zur Seite gestellte Narr beobachten und kommentieren – der Prinz ist entsetzt, dass seine Mutter sich so bald nach dem Tod ihres Mannes wieder vermählt. Kostümbildnerin Irina Spreckelmeyer kleidet den Hof in elegante Burgundertöne, teils im historisierenden, teils modernen Stil. Nur Yorick, der stumme Narr, darf in einer historisierenden schwarzweißen Uniform mit Pluderhosen glänzen – ein Gegenstück zu Hamlet, der wie ein Junge in ausgewachsenen Hosen und T-Shirt sehr lässig daherkommt. In diese konventionellen Bilder platzen plötzlich drei Totengräber im Business-Look mit Anzug, Schirm, Stock und Zylinder aus einem unsichtbaren Grab. Ein erstes Anzeichen, dass etwas faul ist im Staate Dänemark? Einmal über die Bühne und weg … aber bald tauchen sie wieder auf, jetzt sind sie vier, diesmal mit Grundrissen in den Händen, bald mit Leitern und Messgeräten. Eindeutig Investoren der üblen Sorte. Diese Randfiguren kommentieren stumm den Verfall des Hauses, bringen sogar etwas Witz in die düsteren Hallen und lassen den Zuschauer verstehen, warum Hamlet und Yorick am Ende des zweiten Aktes anfangen, mit einer Spitzhacke das Gemäuer zu attackieren auf der Suche nach der Fäulnis hinter der glatten Oberfläche. Und eben diese Fäulnis wird in der zweiten Hälfte sichtbar – von der prunkvollen Eingangshalle ist nicht viel übriggeblieben. Erdhaufen türmen sich links und rechts. Es verfällt alles, weil ein Leben ohne Wahrheit nicht erblühen kann, weil die Wahrheit des Mordes vergraben ist. Hamlet bringt seinen Monolog Sein oder Nichtsein als Arie Être ou ne pas être mit einem obligaten Schädel in der Hand, der dann auch vergraben wird. Leider ist gerade dieser Kernsatz von Shakespeare nicht von Thomas so komponiert, dass es eine weltbekannte Arie geworden ist, sondern eher eine beiläufige Ballade. Kein Vergleich zu den wirklich brillanten Kompositionen für Ophélie.

Hamlet ist hier eindeutig ein Außenseiter, der sich nicht dem höfischen Leben und Intrigen hingibt, sondern einen Sinn für Gerechtigkeit hat. Ophélie, Tochter von Polonius – der sich als Komplize des Vatermörders Claudius herausstellt – ist seelenverwandt mit Hamlet. Auch sie lebt in ihrer eigenen, entrückten Welt, und es ist eigentlich eine konsequente Handlung, dass sie sich das Leben nimmt, nachdem Hamlet sie verstößt. Choreograf Thomas Wilhelm bringt Ophélies Traum von einer glücklichen Hochzeit sehr lyrisch zur Geltung, getanzt von zwei Doubles, Ana Dordevic und Lorenzo Soragni.

Thomas hat – ganz in der Tradition der Grand Opéra des ausgehenden 19. Jahrhunderts – Musik für große Emotionen komponiert: Da sind schon überwältigende Akkorde mit ohrenbetäubenden Paukenschlägen dabei, aber ebenso auch zarte Harfentöne, die die Liebe von Ophélie für Hamlet ausdrücken. Nicht zuletzt integriert Thomas das damals gerade neu patentierte Saxofon in die Bankettszene, in der Hamlet versucht, seinen Onkel als Mörder zu entlarven.

Die Kompositionen von Thomas heben die psychologischen Aspekte der Charaktere hervor und bieten beeindruckende Arien und Ensembles, die die Emotionen der Protagonisten verdeutlichen. Jacquot leitet das Orchester der Komischen Oper mit sicherer Hand durch die vielen Motive und verschiedenen Tempi, bringt die reichen Klangfarben zum Schimmern. Der Zuhörer kommt nicht umhin zu fragen, weshalb man diese Oper nicht öfter hört? Die melodische Sprache von Thomas ist überwältigend.

Bariton Huw Montague Rendall verkörperte den Prinzen Hamlet mit so viel Hingabe, Musikalität und Leidenschaft, dass es kein Wunder ist, dass er vom grandiosen Schlussapplaus überwältigt wirkt. Nicht nur, dass sein lyrischer Bariton immer musikalisch bleibt, aber seine gesamte Mimik und Körperlichkeit zeigt, dass er die Rolle des jungen, verzweifelten, dänischen Prinzen verinnerlicht hat. Physische und psychische Wendigkeit sind perfekt, und die Intensität und Natürlichkeit seines Spiels und des Gesangs gehen Hand in Hand. Als seine Partnerin Ophélie ist Liv Redpath absolut ebenbürtig. Auch sie wie Hamlet blondgestaltet und hell kostümiert. Thomas hat für ihre Rolle zwei Arien geschrieben, die im Koloratursopranrepertoire als höchst herausfordernd gelten. Redpath meistert sie beide, besonders die Wahnsinnsarie, mit lyrischer, ja schwebender, sicherer Höhe. Ein schöneres und passenderes Liebespaar kann man sich kaum wünschen. Bei beiden gefällt die gute französische Aussprache.

Neben diesen beiden herausragenden jungen Sängern wirkt das restliche Ensemble etwas blass. Der Sopran von Karoline Gumos als Königin Gertrude klingt zuweilen scharf, was aber zur Figur der intrigierenden Figur passt. Unter den Herren sticht der alte König von Jens Larsen hervor, eben weil sein Bass brüchig ist und somit perfekt als drohender, aber doch würdevoller Geist, Rache durch seinen Sohn Hamlet verlangt. Tijl Faveyts verkörpert König Claudius mit sonorem und gepflegtem Bariton – und dem dramatischen Hauch eines Usurpators mit schlechtem Gewissen. Tenor José Simerilla Romero gibt den Laerte, Bruder von Ophélie, mit Eleganz. Die diversen Nebenrollen der Herren – Bassbariton Stephen Bronk als Polonius, Bass Frederic Jost als Horatio, Tenor Johannes Dunz als Marcellus – erfüllen die dramatischen und musikalischen Ansprüche.

Zwar eine stumme Rolle, spielt Kjell Brutscheidt als Narr Yorick eine zentrale Rolle. Als Gegenspieler zu Hamlet ergänzt und unterstützt er ihn als Alter ego in seinen Interaktionen mit Königspaar und Hof. Brutscheidt erweist sich als wendiger Schauspieler mit viel persönlichem Charisma.

Berlin hatte 2019 das Glück, Hamlet konzertant an der Deutschen Oper erleben zu können. Schon damals wurde das Werk vom Publikum gut aufgenommen. Jetzt wird diese voll-szenische Produktion an der Komischen Oper mit überwältigendem Applaus für die Solisten, Chor, Orchester und Produktion, insbesondere für Huw Rendall-Montague und Liv Redpath, gefeiert.

Zenaida des Aubris