O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Matthias Baus

Aktuelle Aufführungen

Bescheidener Bauer

IL GIUSTINO
(Antonio Vivaldi)

Besuch am
6. Dezember 2022
(Premiere am 20. November 2022)

 

Staatsoper Unter den Linden, Berlin

Wer glaubt, den Giustino zu kennen – war ja Mitte der 1980-er Jahre der große Erfolg von Jochen Kowalski – der irrt.  Das war damals der Giustino von Händel, der seine Uraufführung 1737 erlebte, hier geht es um den weit seltener gespielten Giustino von Vivaldi, der dreizehn Jahre zuvor uraufgeführt wurde und als erste Oper von Vivaldi an der Staatsoper Unter den Linden gezeigt wird.

So oder so, es handelt sich um einen historischen Stoff – den Bauern, der es auf den Thron schaffte, soll es im Byzantium des sechsten Jahrhunderts gegeben haben. Dass dieser Weg nicht ein gerader war, dass es viele Intrigen gegen ihn gab, sowohl von Männern wie von Frauen initiiert und durchgeführt, ist sicherlich auch belegbar. Natürlich haben beide Komponisten und ihre Librettisten diese Gegebenheiten – wie üblich in der Barockzeit – prächtig ausgeschmückt, wie es sich gehört für eine abendfüllende Oper von über sechs Stunden in der Urfassung. Nach der Streichung von etwa elf Nummern bleibt es heuer immer noch bei mehr als drei Stunden voller hingebungsvollen Musiken von Vivaldi.

Die Handlung hier nachzuerzählen, wäre ebenfalls abendfüllend. Dabei genügt es zu sagen, dass es ein Happy End gibt und dass der Librettist Antonio Maria Lucchini sich der Vorlage von Nicolò Beregan und Pietro Pariati sicher noch einige zusätzliche Wendungen erdacht hat. Wer mit wem gegen wen und warum – allein dafür lohnt es sich, die Aufführung anzusehen. Die Staatsoper hat hierzu sogar eine zusätzliche Kommentarleiste eingefügt, damit der Zuschauer sich etwas orienteren kann, wo die schnell-lebige Geschichte gerade stattfindet – ein verlassener Felsen, die dunkle Ecke eines Gartens, im Thronsaal, im Kerker, bei der sprechenden Statue und viele mehr.

Barbora Horáková hat sich von Thilo Ullrich ein Bühnenbild gewünscht, das schnelle und offene Änderungen zulässt – mal werden Palastbögen heruntergelassen, mal Gartenportale eingefahren, steile Stufen, die zum Schafott führen – konstant findet ein Wechsel statt. Dazu noch viele Spezialeffekte aus dem 18. Jahrhundert wie Donner und Blitz mit den damals üblichen manuell bedienten Maschinen. Und immer wieder ein Glücksrad – nicht ein einfaches, wie man es heute kennt, sondern sehr genau geschnitzt und ausgesägt mit diversen Profilen von Ungeheuern, Kronen und Symbolen. Dazu wird um das weit hochgefahrene Orchester noch ein Catwalk erbaut, der immer wieder von den verschiedenen Charakteren benutzt wird, um die jeweiligen Pointen dem Publikum noch näher zu bringen. Hinzu kommen die von Eva-Maria Van Acker zum Teil sehr witzigen Kostüme – historisch barock mit einer gehörigen Prise Humor und farbiger Fantasie. Zum Bespiel tritt die Göttin Fortuna in einem knalligen pink-glitzernden Bustier mit einem güldenen Walkürenkopfschmuck auf einem blinkenden Roller fahrend oder ein Tyrann hat eine schwarz-weiße Kerkerkluft mit Pumphosen und einem dazu passenden Jokerhut an. Als Gegensatz tritt Giustino bis zum Ende als bescheidener Bauer auf.

Regisseurin Horáková führt die sieben Hauptfiguren mit sicherer Hand und Konzept. Gleich zu Beginn begibt sich eine Kinderschaar mit Schulranzen auf die Bühne. Sie schreien und rennen herum, als wären sie auf einem Schulausflug ins Theater gekommen. Die Kinder sind zwar nicht direkt am Geschehen beteiligt, tauchen aber im Laufe der Oper immer wieder auf und lassen vermuten, dass die Ereignisse durch ihre Vorstellungskraft gefiltert werden. Das kann möglicherweise nicht nur die Verwicklungen und Wendungen der Handlung erklären, sondern auch die stilisierte Qualität der Inszenierung, die zwischen klischeehaften Rekonstruktionen barocker Theaterpraktiken und den modernen, wenn auch bizarren Kostümen schwankt. Das Gesamtergebnis ist ein echtes Pastiche. Die Exzentrik gehört dazu, potenziert das Absurde und unterstreicht die Bedeutung, ganz einfach Glück zu haben um letztendlich auch echte Liebe zu finden.

Da die Theater im 18. Jahrhundert üblicherweise Kastraten einsetzten, weist Il Giustino eine ungewöhnliche Konzentration von Rollen auf, die für hohe männliche Stimmen geschrieben wurden. Daher ist es heute besonders wichtig, die Besetzung zu differenzieren und darauf zu achten, dass die Eigenheiten der einzelnen Rollen nicht verflacht werden. Da Giustino die einzige Figur ist, die sich im Laufe der Oper entwickelt, muss er eine Vielzahl von Arien singen, die von seiner Cavatina, einer Arie di sonno, bis hin zu heroischen und durchsetzungsfähigen Momenten reichen. Christophe Dumaux bringt seinen breitgefächerten, präzisen und klangvollen Countertenor, der sich sich dieser Entwicklung sofort anpasst und bietet eine anrührende Darstellung des zukünftigen Kaisers. Raffaele Pes als König Anastasio hingegen bewahrt eine bemerkenswerte Konsistenz des Tons und fesselt das Publikum mit einem zarten, sensiblen Sopran, der einen merkwürdigen Gegensatz zu seinem prahlerischen Auftreten bildet. Ähnlich wie die beiden Countertenöre zeichnen sich auch die beiden Primadonnen durch gegensätzliche Züge aus. Ist Sopran Kateryna Kaspers Arianna ein souveräner und emotionaler Gegenpart zu Pes‘ Anastasio, so singt Sopran Robin Johannsen eine beeindruckend facettenreiche Leocasta und zeichnet ihre Entwicklung zu einer selbstbewussten jungen Frau nach. Doch der große Erfolg des Abends ist dem Vitaliano von Siyabonga Maqungo zu verdanken, dessen Koloraturen mit kernigem Stahl und ausgezeichneter Verständlichkeit tadellos sind. Hinzu kommen der charismatische Andronico von Contralto Helena Rasker und Sopran Olivia Vermeulens imposante Leistung als Amanzio und Fortuna.

Als engagierter Verfechter der Oper des 18. Jahrhunderts übernimmt René Jacobs die Verantwortung, Vivaldis Oper nicht nur zu dirigieren, sondern auch zu bearbeiten, um sie bühnenreif zu machen – eben die Kürzung auf etwa drei Stunden, wobei die Integrität der Handlung als auch der Charakter der Musik bewahrt werden müssen. Der Dirigent, der die Akademie für Alte Musik durch seine eigene Ausgabe führt, bringt besonders einen klaren, durchsichtigen Klang der Streicher hervor. Wie bei diesen Partituren üblich, lässt die Wahl der Orchestrierung einen gewissen Spielraum für Kreativität, den Jacobs ohne Übertreibung nutzt. Das Resultat ist eine sorgfältige dynamische Ausgewogenheit. Und während die singbare Qualität der Melodien in den Arien stets hervorsticht, werden auch die Rezitative mit Rücksicht auf Vivaldis geniale Harmonien geführt. Immer wieder stechen die besonderen barocken Instrumente in ihren ganz eigenen Klangfarben hervor: die beiden Cembali, Laute, Theorbe und Barockgitarre, Harfe und – ganz besonders – ein Salterio, der eine wunderschöne Arie des Giustino sanft begleitet und ihr eine sphärische Dimension gibt. Jacobs reitet die Tempi in den Unwettern forsch an, kann aber auch die ausgedehnten Seufzer der Liebenden exquisit zum Klingen bringen.

Das begeisterte Publikum überhäuft die Sänger und das Orchester mit Applaus – zu Recht.

Zenaida des Aubris