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CHOWANSCHTSCHINA
(Modest Mussorgsky)
Besuch am
13. Juni 2024
(Premiere am 2. Juni 2024)
Pandemie-bedingt fand erst in dieser Spielzeit die für 2020 geplante Neuproduktion von Chowantschina an der Staatsoper Unter den Linden statt. Nun entfaltet sich die monumentale, schwermütige Musik von Modest Mussorgsky in voller Pracht, auch nicht zuletzt dank der phänomenalen Leistung des Chores.
Chowanschtschina ist eine unvollendete Oper in fünf Akten von Modest Mussorgsky, die das historische Drama um die Chowantschy-Verschwörung im Russland des 17. Jahrhunderts thematisiert, als politische Intrigen und religiöse Spannungen innerhalb der orthodoxen Kirche Russland erschütterten. Mussorgsky selbst schrieb das Libretto, das auf tatsächlichen historischen Ereignissen basiert.
Die Oper beginnt mit dem Zwist zwischen den reformierten und den altgläubigen Russen. Wassili Golizyn, ein progressiver Fürst, und Fürst Chowanski, Anführer der Altgläubigen, sind die zwei zentralen Figuren in dem Konflikt. Chowanski nutzt die Unzufriedenheit des Volkes und die Strelitzen, eine militärische Eliteeinheit, um seine Macht auszubauen. Marfa, die einstige Geliebte von Chowanskis Sohn und Anhängerin der Altgläubigen, prophezeit Russlands Unheil.
Foto © Monika Rittershaus
Im Verlauf der Oper werden Intrigen und Machtkämpfe ausgefochten. Golizyn schmiedet Pläne, um den Einfluss der Chowantschy zu untergraben, während Chowanski versucht, seine Position durch Gewalt und Terror zu sichern. Die Handlung kulminiert im dramatischen Höhepunkt, als Chowanski von den Zaren-Truppen ermordet wird. Die Strelitzen werden unterdrückt, und das Machtvakuum führt zu weiterer Instabilität. In einem symbolträchtigen Ende entschließen sich Marfa und der Sohn des Fürstens, ihrem Glauben treu zu bleiben und begehen Selbstmord, indem sie sich verbrennen lassen.
Claus Guth kann bei seiner Inszenierung auf seine frühere Zusammenarbeit mit Simone Young zurückgreifen. Man kennt sich aus Hamburg, hat einen Ring zusammen herausgebracht. Die eingespielte Vertrautheit ist spürbar und sichtbar in der Durchführung des, teils historisierenden, teils in die Gegenwart umgesetzten Konzeptes.
Wie eine Klammer beginnt und endet das Werk mit einer Szene im vermeintlichen Privatbüro des aktuellen Herrschers vor einer überlebensgroßen Statue von Peter dem Großen, imposantem Schreibtisch, Schreibzeug – sogar an einen Wassernapf für den Hund ist gedacht worden – wo ein Privatsekretär eine Unterschriftsmappe vorlegt und am Schluss wieder abholt. Fall abgeschlossen?
Christian Schmidt entwirft aber weit mehr als dieses Büro – mobile Module tun sich auf, mal ein fürstliches Vorzimmer, mal ein prächtiger Salon, aber auch immer wieder dunkle, leere Bühnen, die dem Chor und den Solisten eben den notwendigen Raum geben, sich zu entfalten. Schmidt benutzt die hydraulischen Möglichkeiten der Bühne, um den großen Chor aus der Unterbühne auftauchen zu lassen oder emporzuheben. Macht zwar Eindruck, ist aber nicht zwingend dramaturgisch notwendig. Ursula Kudrna gibt den historischen Figuren der Hauptdarsteller ebensolche prächtige Kostüme, lässt aber den Chor in zeitlosem, schlichtem Grau und Schwarz auftreten – das unterstreicht den Klassenunterschied umso mehr. Je weniger Requisiten auf der Bühne sind, desto stärker wirken die Videoprojektionen von Roland Horvath, die den gegenwärtigen Kontrapunkt mit militaristischen Bildern zum musikalischen und dramaturgischen Geschehen geben. Eine Live-Kamera, die mitten auf der Bühne einzelnen Darsteller folgt, fokussiert die Aufmerksamkeit weiter in die Aktualität. Auch das Heranwachsen vom zukünftigen Peter dem Großen – zur Zeit des Geschehens gerade mal ein Junge von zehn Jahren, später dann ein Teenager, wird immer wieder mit der einfachen, und universell altmodischen Methode eines Kreidestrichs über dem Kopf vermessen.
Mussorgskys Darstellung eines turbulenten Kapitels der russischen Geschichte aus dem 17. Jahrhundert kann als Ausgangspunkt und Rechtfertigung für die Machtübernahme durch Zar Peter den Großen interpretiert werden. Klever setzt Guth eine erfundene Gruppe von Technikern in Laboranzügen ein, die eine distanzierende Relativierung zu den historischen Bildern herstellt. Ein solcher Techniker schreibt an einem Notebook während der Ouvertüre an seinem Stehpult die dann projezierte Vorgeschichte und stellt die Rollen und ihre politische Beziehung zueinander vor. Dabei respektiert die Inszenierung von Guth die Vielschichtigkeit der Vorlage und hebt das Unvollständige und Fragmentarische hervor, um daraus ein kohärentes Gesamtkunstwerk zu gestalten.
Foto © Monika Rittershaus
Musikalisch zeichnet sich Chowantschina durch Mussorgskys charakteristische Harmonik und seine Fähigkeit aus, russische Volksmelodien und Liturgien in das Werk zu integrieren. Aufgrund seines Todes 1881 konnte Mussorgsky die Oper nicht vollenden. Die hier gespielte Fassung ist die von Dmitri Schostakowitsch, mit dem Finale von Igor Strawinsky. Bei all den oft schwermütigen Melodien lässt Simone Young die Staatskapelle ihre volle Klangpracht ausbreiten und sorgt für die richtige Balance zwischen Graben und Bühne.
Die Hauptrollen stechen hervor in ihrer musikalischen und dramatischen Wichtigkeit. Bass Mika Kares, der wohl wichtigste gegenwärtige Nachfolger von Matti Salminen, und Matti Talvela, der den Fürsten Iwan Chowanski sowohl stimmlich wie darstellerisch mit überwältigendem Realismus verkörpert. Als sein Gegenspieler ist Tenor Stephan Rügamer in der Rolle des Fürst Wassili Golizyn ebenso stählern und stursinnig – man ahnt, die beiden Gegner geben nur mit dem Tod nach. Marina Prudenskaya ist eine Marfa, die mit ihrem samtigen Mezzo berührt und die ebenso würdevoll und stolz ihren Glauben und ihr Schicksal akzeptiert. Taras Shtonda mit seinem wohlklingenden Bass ist eine ideale Besetzung als Dossifei, Oberhaupt der Altgläubigen, der mit großer Überzeugung seinen unerschütterlichen Glauben verteidigt. Als Chowanskis Sohn Andrei macht Najmiddin Mavlyanov mit einem nasal-durchdringenden Timbre die Figur noch unsympathischer, als sie sowieso ist. Bariton George Gagnidze erfüllt die Rolle vom Boyar Schaklowity mit einer selbstbewussten, imposanten Präsenz.
Chowantschina ist reich an Chornummern, die die emotionale und politische Atmosphäre verstärken. Zu den bedeutendsten Chorszenen gehören das Gebet der Altgläubigen, die martialischen Auftritte der Strelitzen und die bewegenden Klagegesänge des Volkes, die die Verzweiflung und die Hoffnungen der Menschen ausdrücken. Chorleiter Dani Juris – er ist erst seit dieser Saison an der Staatsoper – sorgt für die exzellente Einstudierung, die ausgesprochene Musikalität, Sensibilität wie auch Präzision, die der Klangkörper in dem Stück zum Ausdruck bringt.
Eine Sekunde der andächtigen Stille stellt sich nach dem letzten Akkord ein, bevor das Publikum zum überwältigenden Applaus für alle Darsteller ansetzt.
Zenaida des Aubris