O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Barbara Braun

Aktuelle Aufführungen

Klärung der Schuldfrage

CHICAGO
(John Kander, Bob Fosse)

Besuch am
28. Oktober 2023
(Premiere)

 

Komische Oper Berlin

Wie sehen über 6500 einzeln gesteuerte Glühbirnchen aus? Umwerfend! Zur ersten Produktion der Komischen Oper in der ausgelagerten Spielstätte des Schillertheaters, während des Umbaus des Stammtheaters an der Behrensstrasse, kommt das Musical Chicago auf die Bühne. Ex-Intendant und Regisseur Barrie Kosky zeigt wieder einmal, dass er gerade dieses Genre meisterhaft beherrscht.

Chicago, basierend auf wahren Begebenheiten und auf der Vorlage der Journalistin Maurine Dallas Watkins, wurde mit der Musik von John Kander und dem Libretto von Bob Fosse und Fred Ebb 1975 in Philadelphia uraufgeführt. Am Broadway spielte es ebenfalls ab 1975 in einer neuen Produktion, ab 1996 und 2002 wurde es mit Catherine Zeta-Jones, Renée Zellweger und Richard Gere in den Hauptrollen verfilmt – und gewann prompt den Academy Award Preis für besten Film in dem Jahr. Auch in Berlin ist es seit 1988 einige Male aufgeführt worden, unter anderem am Theater des Westens mit Katja Ebstein als Roxy Hart und Hans Clarin als Ehemann Amos.

Was macht Chicago so attraktiv? Im Grunde ist es nur eine Sex-and-Crime-Geschichte, aber das zieht ja immer. Es spielt im Chicago der 1920-er Jahre und dreht sich um Ruhmsucht, Medienspektakel, skandalöse Kriminalität und das Korruptionssystem der Justiz.

Die Geschichte folgt Roxie Hart, einer verheirateten Frau, die davon träumt, als Sängerin auf der Bühne zu stehen. Sie wird jedoch zur Mörderin, als sie ihren Liebhaber tötet. Im Gefängnis trifft sie auf Velma Kelly, eine etablierte Vaudeville-Performerin und ebenfalls eine Mörderin. Beide Frauen stehen im Mittelpunkt eines Medienzirkus und kämpfen um die Aufmerksamkeit des Staranwalts Billy Flinn, der ihre Fälle nutzen möchte, um sie in die Schlagzeilen und somit in die Freiheit und zu Ruhm zu bringen – um gleichzeitig selbst gut daran zu verdienen.  Das Musical ist eine scharfe Satire auf die Fähigkeit der Medien, die öffentliche Meinung zu manipulieren, und die Bereitschaft der Gesellschaft, Kriminelle zu Prominenten zu machen.

Das Bühnenbild von Michael Levine dominiert mit einem Riesenportal und beweglicher Gitterstruktur das abwechselnd Gefängnis oder Bühne wird, blinkend und glitzernd mit besagten 6500 einzeln gesteuerten Lämpchen, je nach musikalischer Nummer – Applaus hier für Olaf Freese, der das geniale Lichtkonzept gestaltet hat.  Passend dazu die glitzernden Kostüme der Hauptdarstellerinnen und Tänzer von Victoria Behr, die im starken Kontrast zu den biederen, grauen Gewändern der Pressemeute stehen. Bob Fosses einzigartiger Stil in der ursprünglichen Choreografie hat das Musical-Theater nachhaltig beeinflusst. Die nimmt Co-Regisseur und Choreograf Otto Pichler, zusammen mit seinen Tänzern, als Ausgangspunkt und liefert hinreißende, witzige, präzise ausgeführte Nummern, die immer wieder Freude machen und ein Schmunzeln hervorrufen.

Als Musical-Vaudeville bezeichnet, definiert sich Chicago durch eben die musikalischen-tänzerischen Akte, nicht unbedingt durch die dazwischen stattfindenden Dialoge, die nur dazu dienen, von einer Nummer in die nächste zu leiten. Es wird übrigens auf Deutsch gesprochen und gesungen, in einer sehr lässigen und kongenialen Übersetzung von Erika Gesell und Helmut Baumann.

Mit einem so hervorragenden, spielfreudigen Team hat Kosky sicher gut arbeiten können. Alle, wirklich alle Darsteller scheinen echten Spaß an ihren Rollen zu haben. Allen voran die beiden Hauptdarstellerinnen, Katherine Mehrling in der Rolle der Roxy Hart und Ruth Brauer-Kvam als Velma Kelly, die eine blond, die andere brünett, beide sind völlig überzeugend, jede auf ihre Weise. Wie sie sich gegenseitig ausspielen, übertrumpfen und dann letztendlich doch – nachdem sie freigesprochen werden – ihren Traum erreichen und mit einem Schwestern-Akt auf der Bühne berühmt werden. Seinen schlanken Tenor braucht Jörn-Felix Alt, um charmant, aber knallhart den opportunistischen Anwalt zu spielen, der seine beiden Kundinnen medienwirksam trimmt, damit sie dann auch – auf einer runden Bühne, effektvoll von Glühbirnen eingerahmt – die Zeugen von ihrer Unschuld überzeugen. Andreja Schneider macht ihre Fortune als bestechliche Gefängnis-Mama Morton mit zynischem Charme. Tenor Ivan Turšić gibt den naiven, bemitleidenswerten Ehegatten von Roxy Hart ab. In seiner lieblichen, biederen Naivität ist er das genaue Gegenteil zu seiner ambitionierten, schrillen Frau. Wie die beiden zueinander gefunden haben, bleibt ein Rätsel. Hagen Matzeit hat seinen Spaß als Klatschreporterin Mary Sunshine, deren meinungsbildende Reportagen den Nerv der Zeit treffen und Mitleid für die Mörderinnen als Opfer der männlichen Gesellschaft schürt.

Adam Benzwi versteht es vorzüglich, das Orchester der Komischen Oper in jazzige Stimmung zu bringen.  Immerhin ist er in der Tradition dieser Musik aufgewachsen und weiß, wie man sie kommuniziert und die Künstler und Musiker motiviert. Die Musik von John Kander und die Texte von Fred Ebb sind eingängig, emotional und ironisch. Sie fangen die Jazz-Ära perfekt ein und dienen gleichzeitig als Kritik an der modernen Popkultur. Lieder wie All That Jazz, Cell Block Tango und Mr. Cellophane sind zu Standards geworden.

Das tobende, applaudierfreudige Publikum bezeugt, dass der temporäre Umzug der Komischen Oper von der Behrensstrasse ins Charlottenburger Schiller-Theater ein voller Erfolg ist.

Zenaida des Aubris