O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Bilder ähnlich der besuchten Aufführung - Foto © Serghei Gherciu

Aktuelle Aufführungen

Bovary, c’est moi

BOVARY
(Christian Spuck)

Besuch am
27. Oktober 2023
(Premiere am 20. Oktober 2023)

 

Staatsballett Berlin in der Deutschen Oper Berlin

Christian Spuck ist mit Bovary in Berlin angekommen. Viele haben ihn vor diesem Moloch gewarnt. Nach mehr als zehn Jahren engagiert kreativer Arbeit am Ballett Zürich, ist es für ihn offenbar der richtige Moment, seine bisher schon hoch gelobte Karriere als Choreograf auf dem heißen Berliner Pflaster mit dem Staatsballett Berlin fortzusetzen, neue Ziele anzustreben. Vielleicht sich selbst auf die Probe zu stellen?

Mit der Spielzeit 2023/24 ist er der neue Intendant. Mit der Choreografie und Inszenierung des Tanzstücks Bovary nach dem Roman Madame Bovary von Gustave Flaubert eröffnet Spuck sie fulminant. „Die ersten Tanzschritte auf dem harten Berliner Pflaster hat Christian Spuck damit unverletzt überstanden – keine Selbstverständlichkeit“, zeigt sich die Neue Zürcher Zeitung ohne eine Träne des Bedauerns nach seinem Abschied aus Zürich begeistert. In Perfektion hat Spuck diesen Wechsel mit Bovary vollzogen. Soviel lässt sich nach der dritten Vorstellung Bovary – mit anderen Solisten als denen der Premiere wenige Tage zuvor – konstatieren.

Mit der Aufführung seiner Inszenierung des Verdi-Requiems im Frühsommer dieses Jahres an der Deutschen Oper Berlin hat Spuck dem Berliner Publikum seine Visitenkarte überreicht, respektive seine Bewerbung in gewisser Weise öffentlich gemacht. Sieben Jahre nach der von ihm choreografierten und inszenierten, fulminant bejubelten Premiere 2016 am Opernhaus Zürich konnte nichts selbsterklärender sein.

Foto © Serghei Gherciu

Spuck kreiert mit Bovary ein Erzählballett, das Flauberts Roman nicht literarisch reflektiert nacherzählt, was, wie er bemerkt, mit den Mitteln des Tanzes auch gar nicht möglich sei. Er reduziert und fokussiert auf die Figur der Emma Bovary. Ein Schicksal voller Facetten, das Spucks Inszenierung wie ein Palimpsest überzeichnet. So mittelmäßig die Welt, wie sie für die meisten Menschen Realität ist, so regen sich doch Wünsche und Gefühle von unbedingtem Leben und Lieben. Die Sehnsucht, geliebt zu werden, an der ihr innewohnenden Lust teilzuhaben, führt Emma Bovary in eine Sackgasse. Traumwelten, gebaut aus billigen, romantisch verzehrenden Liebesromanen, die bis heute, noch befeuert durch Online-Dating-Foren sowie weiteren Spielformen in den sozialen Medien, aktuell sind. Illusionswelten, aus denen es irgendwann keinen Ausgang mehr gibt.

Was Spuck an Flauberts Roman interessiert, ist die stilistische Dramaturgie. Flaubert erzählt aus einer betrachtenden Position von außen und ist doch gleichzeitig dieser Person ganz nahe: Bovary, c’est moi! Emma ist das Zentrum der Inszenierung. In ihr spiegeln sich in Andeutungen hintergründig Emotionen und seelische Nöte.

Spucks Bovary-Choreografie wechselt die Erzählebenen wie in einem musikalischen Kaleidoskop. Werke von Toru Takemitsu und György Ligeti sowie Charles Ives arrondieren tänzerisch abstrakte Erzählebenen im düster morbiden, verwelkenden Bühnenbild von Rufus Didwizus. Sie kreieren variabel tönende Klangräume. In den Szenen choreografierter Gruppenbilder der Compagnie sind von Pianistin Alina Pronina Sequenzen aus dem Klavierkonzert Nr 3 E-Dur von Camille Saint-Saëns zu hören.

Zeitweise werden von Tienie Burkhalter auf die hintere, mobil sich öffnende und schließende Bühnenwand Filmsequenzen vom ländlichen Leben mit Ackern, Melken und Schlachten vom Beginn des 20. Jahrhunderts projiziert. Bei einer Bauernhochzeit ist zu sehen, wie der Schuh der Braut im Unrat des Hofes stecken bleibt. Marina Frenks liest aus dem Off mit ausgewählten Textpassagen aus Flauberts Roman. Mit ihnen erhält die Erzählung, auch für diejenigen, die den Roman nicht gelesen haben, einen metaphorisch komprimierten Subtext.

Solche metaphorischen, wie nebenbei eingeblendeten Signaturen charakterisieren die Ballett-Szenenfolgen von Prolog sowie erstem – Die Hochzeit, Der Ball auf Schloss Vaubyessard, Eine schüchterne Liebe, Die Landwirtschaftsausstellung in Yonville – und zweitem Akt – Der Rausch von Rouen, Die Rückkehr von Yonville, Das Gift, Der Tod. Diese Dramaturgie assoziiert unwillkürlich einen Marcel-Proust-Kosmos. Emmas andere, naive Suche nach der verlorenen Zeit, von der sie wenig mehr als eine Ahnung hat.

Foto © Serghei Gherciu

Die fokussierten Nahaufnahmen, gleichsam Ausleuchtungen des Innenlebens von Emma, breiten mit den enigmatischen Tintinnabuli-Kompositionen von Arvo Pärt der auch sinnlich präsenten Solotänzerin Polina Semionova einen Klangteppich aus. Ihre Tanzkunst tastet mit sensibel nuancierter Unmittelbarkeit die enttäuschten Hoffnungen Emmas Schritt für Schritt bis in das finale Desaster ab.

Im Pas de deux mit Cohen Aitchison-Dugas als Frauenheld Leon sowie im Finale mit Matthew Knight als Charles Bovary steigert sich die Choreografie in einen erotisch tödlichen Höhenrausch. Ein dadaistisch konnotiertes Totentanz-Quintett, das an den Horrorfilm Das Cabinet des Dr. Caligiari aus den 1920-er Jahren erinnert, bedrängt Emma mit gemeiner Niedertracht. Eine choreografierte Maskerade, die als eines der starken Bilder des Tanzstücks in Erinnerung bleibt.

Emmas Todestaumel, begleitet von Auszügen aus L’Oiseau innumérable, conerto pour piano von Thierry Pécou und einer Passacaglia von Pärt, steigert sich zu einem Memento mori. Bestäubt mit weißem Gift, windet sie sich, eingesperrt in ihren Körper, als würde der griechische Totengott Thanatos sie tödlich umschlungen festhalten. Die szenische Architektur mit Stuhl, von Charles und Emmas Dienstmädchen Félicité, dargestellt von Vivian Assal Koohnavard, mit Schrecken wahrgenommen, erinnert an das grafische Blatt Der Tod im Krankenzimmer von Edvard Munch, das in der aktuellen Ausstellung in der Berlinischen Galerie zu sehen ist.

Umflirrt von dem schmachtenden Pop-Sound She was von Camille, wird alles wieder auf Anfang gesetzt: Go Go Go away When she was young She was a cow.  Wie zu Beginn stehen klagende Weiber mit schwarz umflorten Gesichtern, scheinbar dem antiken Theater entstiegen, wieder auf Podesten. Das Warten auf das eine gewisse Lebensglück beginnt kreislaufartig wieder von vorn.

Jonathan Stockhammer, am Pult des Orchesters der Deutschen Oper Berlin serviert dem Ballett Berlin die untereinander kontrastierenden Kompositionen wie auf einem klangsilbernen Tablett. Allein der Inszenierung verpflichtet und trotzdem mehr als nur ein Back-up-Service.

Peter E. Rytz