O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Aktuelle Aufführungen

Schöne Verbindung

„SING‘ ICH NOCH JENEN TRAUM …“
(Diverse Komponisten)

Besuch am
8. Oktober 2022
(Einmalige Aufführung)

 

Liedsommer im Sinngewimmel, Bergisch Gladbach

Neue Musik ist Kassengift, egal, wie man sie definiert. Konzertveranstalter sind davon nicht nur überzeugt, sondern verbreiten diese Mär und meiden sie wie die Pest in ihren Programmen. Hin und wieder findet man Alibi-Schnipsel auf den Programmzetteln. Da steht eine dreiminütige Uraufführung zwischen zwei Sinfonien von Mozart und Beethoven, damit in der Pause niemand wegläuft. Die Gegenprobe allerdings fehlt. Gewiss. Es gibt Veranstaltungen, in denen ausschließlich neue Musik zu hören ist. Die werden dann allerdings einer bestimmten „Szene“ zugerechnet. Wer sich mit dieser Szene intensiver auseinandersetzt, wird feststellen, dass es hier die gleichen Qualitätsunterschiede wie in der Klassik gibt; aber keinen Grund, sich der neuen Musik zu widersetzen oder sie gar abzulehnen. In der Wiener Klassik, die Veranstalter heute propagieren, wäre niemand auf die Idee gekommen, sich ein Stück zwei Mal anzuhören. Haydn, Mozart, Beethoven und andere verbrachten ihre Zeit damit, in den Salons neue Werke zu präsentieren, weil alles Bekannte langweilte.

Johannes Held – Foto © O-Ton

Naré Karoyan und Johannes Held brechen radikal mit einer „Tradition“, die es in den Konzertsälen eigentlich noch gar nicht so lange gibt. Da hat ein kongeniales Paar zusammengefunden. Khatia Buniatishvili spielt auf den großen Bühnen dieser Welt und scheffelt Geld. Karoyan wohnt in Köln, betreibt in Bergisch Gladbach einen Kammermusiksaal und hat unglaublich viel Spaß daran, sich neue Projekte auszudenken, wissenschaftlich zu forschen und so vielleicht etwas zur Entwicklung der Musik beizutragen. Wer die bessere am Klavier ist, vermag man nicht zu sagen. Ein direkter Vergleich könnte überraschend ausgehen. Held ist als Bariton längst etabliert. Auch er hat längst einen professionellen Status erreicht, der ihm erlaubt, über das übliche Repertoire hinauszuwachsen. Auch ihm geht es nicht darum, in der Metropolitan Opera anzukommen, sondern „sein Ding“ zu machen. Er gehört definitiv zu den wenigen Sängern, die mit dem Singen des Alphabets noch einen spannenden Opernabend gestalten können. Und die beiden wagen ein Experiment, von dem ihnen jeder Veranstalter voraussagt, dass die Besucher ausbleiben werden. Mit Sing‘ ich noch jenen Traum … haben sie ein Programm zusammengestellt, das beinahe hälftig aus zeitgenössischer Musik besteht. Da stehen Franz Schubert und Robert Schumann aus der Vergangenheit Wolfgang Rihm, Ursula Mamlok und Anno Schreier aus der jüngeren Gegenwart gegenüber. Das kann ja nun wirklich nicht funktionieren.

Der Kammermusiksaal in Refrath, mittlerweile ein Stadtteil von Bergisch Gladbach, den Karoyan liebevoll Sinngewimmel nennt, weil sie Neologismen liebt, ist an diesem Abend bis auf den letzten Platz besetzt. Und nein, hier hat sich nicht die Neue-Musik-Szene versammelt, sondern hier sitzen die Stammhörer, die Karoyan sich in der Vergangenheit mit interessanten Programmen erarbeitet hat. Sie vertrauen der Pianistin offenbar blind. Recht haben sie.

Naré Karoyan – Foto © O-Ton

Vor dem Beginn begrüßen die beiden das Publikum, und Held gibt einen Überblick über die kommende Stunde. Das ist sehr viel schöner als die Sitte, sich einfach hinzusetzen und loszuspielen. Schon haben die beiden alle Sympathien auf ihrer Seite. Und noch eine schöne Idee könnte gern Schule machen. „Damit Sie während des Vortrags nicht mit Gedichtanalysen beschäftigt sind, haben wir darauf verzichtet, die Texte abzudrucken“, erläutert der Bariton. Er hat stattdessen dem Programmzettel ein zusätzliches Blatt hinzugefügt, auf dem die Inhaltsangaben der Lieder nicht länger als einen Satz sind. Wunderbar. Leisten kann er sich das natürlich auch nur, weil er weiß, dass er so textverständlich singt, dass hier wirklich kein Wort unverstanden bleibt. Nach Schuberts Der Musensohn folgt bereits von Rihm Heut und ewig. Dann erklingen vier weitere Lieder Schuberts, ehe Rihm das Phänomen besingen lässt. Nach des Schäfers Klagelied beendet Karoyan den ersten Teil mit zwei Klavierstücken unter dem Titel Inward Journey von Ursula Mamlok, die 2016 in ihrer Geburtsstadt Berlin starb, nachdem sie den größten Teil ihres Lebens in Amerika verbracht hatte.

Den zweiten Abschnitt des Abends leitet Schön Hedwig von Robert Schumann ein, eine Ballade von Friedrich Hebbel, vertont für Sprecher und Klavier. Es bleibt abwechslungsreich. Erneut greift Karoyan zu den Noten von Mamlok und interpretiert vier Klavierstücke, die den Titel 2000 Notes tragen. Wie bereits im ersten Teil, erweist sich die Pianistin als exzellente Begleiterin, wenn Held anschließend Belsazar von Schumann und drei Heine-Lieder von Anno Schreier vorträgt. Als Zugabe haben die beiden Musiker Abschied von der Erde von Schubert vorbereitet.

Selbstverständlich ist es nur die halbe Wahrheit, wenn man an diesem Abend von neuer Musik spricht. Denn dass es Held gelingt, die Texte nahezu ununterscheidbar aneinanderzureihen, funktioniert nur deshalb, weil auch Rihm und Schreier auf Texte aus der Vergangenheit zurückgreifen. Trotzdem bleiben die Ähnlichkeiten verblüffend. Die Besucher kümmern sich auch nicht groß um musikwissenschaftliche Haarspaltereien, sondern genießen den Auftritt in vollen Zügen. Die angenehme, volle, warme, immer aber gut akzentuierte Stimme des Baritons, die vom hochkonzentrierten Klavierspiel Karoyans perfekt ergänzt wird, sorgen für einen Grad der Entspannung, der viele der Besucher mal kürzer, mal länger die Augen schließen lässt. Was sie nicht daran hindert, dem Duo, das ihnen so nah gegenübersteht, mit größtmöglichem Applaus für eine hervorragende Aufführung zu danken. Es ist zu wünschen, dass dieses Programm nicht nur im Rahmen der Konzertreihe Liedsommer eine einzige Wiederholung in Bonn erfährt, sondern Gelegenheit bekommt, in der ganzen Bundesrepublik zu Gehör zu kommen.

Michael S. Zerban