O-Ton

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Aktuelle Aufführungen

Geistig authentische Reinkarnation

EINE WINTERREISE
(Franz Schubert)

Besuch am
15. Februar 2022
(Premiere am 22. Januar 2022)

 

Theater Basel

Franz Schubert und sein Liederzyklus Winterreise, heute ein Klassiker auf deutschsprachigen Bühnen, ist Zeugnis eines am Leben verzweifelnden Menschen in düsteren Zeiten. Bedrohung und Bespitzelung sind im Metternich-Staat an der Tagesordnung. Im Frühjahr 1827, ein Jahr vor seinem frühen Tod, kündigt Schubert seinen Freunden einen Zyklus schauerlicher Lieder an.

Schuberts romantisch komponierte Stimmungsbilder von Sehnsucht, Einsamkeit und Entfremdung, gespiegelt in den ätherischen Elementen des Universums von Feuer, Wasser, Erde und Luft, sind für jede Interpretation eine Herausforderung. Eine, die hinter den Liedern den Menschen Schubert in tragischer Weltverlassenheit entdeckt.

Die Mezzosopranistin Anne Sofie von Otter und der Regisseur Christof Loy sind sich vor einigen Jahren in dem Wunsch begegnet, gemeinsam eine Schubertiade zu inszenieren. Eine Aufführungsform als konzeptionelle Grundlage zu nehmen, die mit dieser Bezeichnung direkt an Schuberts konzertante Aufführungspraxis zu seinen Lebzeiten in privaten Räumen anknüpft. Anders als seine berühmten Zeitgenossen Mozart und Haydn, lebt er nicht mit der relativen Sicherheit eines angestellten Hof-Musikus. Schubert ist vielleicht sogar als der erste freiberufliche Komponist überhaupt zu bezeichnen.

Zusammen mit dem Pianisten Kristian Bezuidenhout haben Sängerin und Regisseur neben den Winterreise-Liedern auch einzelne Stücke aus Die schöne Müllerin sowie Textfragmente, Gedichte und Klaviersonaten ausgewählt. Herausgekommen ist Eine Winterreise: Musik von Franz Schubert – Ein Abend erdacht und inszeniert von Christof Loy.

Von Schubert schlichtweg artikellos als Winterreise bezeichnet, benennt Wilhelm Müller seine entsprechende Gedichtsammlung mit Die Winterreise. Nichts weniger als eine lebendige Wiederbegegnung, eine geistig authentische Reinkarnation von Musik und Leben intendiert Loys poetische Inszenierung Eine Winterreise am Theater Basel.

Aus zerbrochenen Dachfenstern eines Saales der Gründerzeit verliert sich das Licht ins dunkle Irgendwo. Er, der reife Franz Schubert, verkörpert von Anne Sofie von Otter, öffnet die rechte Saaltür, vergewissert sich des Raumes, als beträte er eine Grabkammer auf der Suche nach Schuberts Geist. Bezuidenhout kommt durch eine andere Glastür, schaltet Wandleuchten ein, legt den Wintermantel ab und setzt sich an das historische Hammerklavier aus Schuberts Zeit. Von Otter setzt sich neben ihn, stimmt mit dem Vers „So umschatten mich Gedanken an das Grab“ aus Friedrich Klopstocks Die Sommernacht auf Schuberts Seelenreise ein.

Die Basler Schubertiade stellt Franz Schubert seinen Freund Franz von Schober, einen Bohemien mit radikal freier, romantisch verklärter, erotisch aufgeladener Lebensführung gegenüber. Kristian Alm tanzt den Draufgänger Schober mit von der Regie merkwürdig inszenierter Formlosigkeit.

Für die Figur Schuberts erfindet Loy einen biografisch kodifizierten Doppelgänger. In diesem assoziativen Schubert-Kaleidoskop spurt von Otter die Wege des Er, Schubert, mit den Liedern ihres dunkel getönten Mezzosoprans. Der Schauspieler Nicolas Franciscus, mit dem Loy verschiedentlich zusammenarbeitet, performt den träumerischen Erzählduktus als Doppelgänger auf fast somnambule Art.

Franciscus starrt, häufig kauernd auf dem Boden, mit irrem Blick in seine eigene Welt zurück. Raufend mit Schober, zerren beide an Viola, Subjekt von Liebeshoffnung wie an purem Lustgewinn. Giulia Tornarolli bewegt sich wie Alm auf choreografierten, redundanten Abwegen in einem melancholisch morbiden Raumgehäuse von Herbert Murauer. Dass Tornarolli die Rolle der Kurtisane der nach einem positiven Corona-Test ausgefallenen Tänzerin Matilda Gustafsson kompensiert, fällt, wenn es nicht angekündigt wäre, nicht auf.

Warum nach von Otters innig anrührendem Liedgesang Im Abendroth – „O wie schön ist Deine Welt“ – Franciscus, Alm und Tornarolli laut krachend Stühle aufstellen, verrücken, empathische Sitzproben veranstalten, bleibt das Geheimnis des Regisseurs. Noch Bezuidenhouts einsetzende Klaviersonate in a-moll muss sich gegen das chaotische Treiben durchsetzen. Auch wenn Loy im Programmheft darauf verweist, dass der Abend „keinesfalls eine gradlinige Erzählung von Schuberts Biografie“ sein will, lässt sich der Eindruck nicht verwehren, kontrapunktisch zu insistieren, ohne nachvollziehbar inszeniert zu haben.

Je länger die Aufführung voran geht, umso deutlicher wird, dass die choreografischen Bebilderungen nicht nur befremdlich wirken, sondern dem souverän gestalteten Spiel Bezuidenhouts und der Gesangskunst von Otters mitunter kontrovers im Wege stehen.

Mit dem Epilog aus dem Textfragment Der Dichter schickt von Otter mit komödiantischem Augenzwinkern Schubert und dem anschließend insbesondere ihr und Bezuidenhout heftig applaudierenden Publikum einen Ruf hinterher: „So hab‘ ich denn nichts lieber hier zu tun, als euch zum Schluss zu wünschen wohl zu ruhn.“

Peter E. Rytz