O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Judith Schlosser

Aktuelle Aufführungen

Elektronik statt Singstimme

IL RITORNO D’ULISSE IN PATRIA
(Claudio Monteverdi)

Besuch am
16. Februar 2022
(Premiere am 7. November 2021)

 

Theater Basel

Vom gut bürgerlichen Restaurant Besenstiel sind es nur wenige Schritte bis zum Schauspielhaus Basel. Ein kurzer Weg zu Claudio Monteverdi, der lange 450 Jahre vergessen lässt. Angekommen im von den Architekten Schwarz, Gutmann und Pfister in den 1990-er Jahren entworfenen, 2002 eröffneten Bauwerk aus Beton, Glas und Schiefer, wabern schon beim Eingang über die zweigeschossige verglaste Publikumspromenade aus dem Theaterraum elektro-akustische Rhythmen.

Obwohl versichert, Il Ritorno d’Ulisse in patria, 1641 von Monteverdi komponiert, gebucht zu haben, kommen für einen Moment Zweifel auf, am richtigen Ort zu sein. Die Einführung zuvor wischt diesen aber mit Nonchalance weg. Musikhistorisch informiert, dass die im 17.  Jahrhundert wieder neu entdeckten antiken Texte verständlicher sind, wenn sie gesungen und nicht nur gesprochen werden, begibt man sich darüber staunend, wie Oper einfach zu definieren ist, ins Parkett.

Der Bühnenraum öffnet sich bis zur Brandmauer. Vor der technischen Infrastruktur hat Didzis Jaunzems ein über die gesamte Breite reichendes Regal gebaut. In ihm sind Kisten und mobile Requisiten vor einem verdeckten Holzpferd zu entdecken. Bühnenarbeiter bewegen die Module, schaffen wechselnde Raumarrangements. Über eine äußere Eisentreppe wird die oberste Regal-Plattform erreicht.

Sie ist Spielstätte der Streichinstrumente Violine und Viola sowie Lirone und Zinken des Basler Barockorchesters I Musici de la Cetra, angeführt von der Konzertmeisterin Katharina Heutjer. Im Graben hat der musikalische Leiter Johannes Keller am Cembalo mit Daniele Caminiti und Maria Ferré an der Theorbe sowie Harfenistin Vera Schnider die andere Hälfte des Orchesters versammelt. Sie sind wesentliche Garanten für eine barocke Klangfarbigkeit, für die der Name des Ensembles steht, Antonio Vivaldis Violinkonzert op. 9 La Cetra – die Leier – entlehnt.

Krystian Lada inszeniert Il Ritorno d’Ulisse als eine Erzählung, die ohne die titelgebende Hauptperson, ohne den Rückkehrer Odysseus auskommt. Er hat dessen Singstimme gestrichen. Anstelle dieses Parts spielt Nicolas Buzzi vom Mischpult am linken Bühnenrand vom Synthesizer erzeugte elektronische Collagen ein. Für Lada ist Odysseus, so seine konzeptionelle Inszenierungsidee, eine im Grunde schwer fassbare Persönlichkeit, eigentlich gar keine Figur, sondern vielmehr eine Projektionsfläche. Seine Abwesenheit projiziere und imaginiere die Charaktere der Protagonisten auf ihn. Damit sollen sich Assoziationsräume öffnen, die ermöglichen, sich ein Bild von unbekannten Menschen entlang allgemeiner Stereotype zu machen.

Wenn man so will, folgt Lada im weitesten Sinne einem der intimsten Monteverdi-Kenner, John Eliot Gardiner. Gardiner ist überzeugt, dass das letzte Wort in Sachen Monteverdi noch nicht gesprochen ist. Wie auch? Die hinterlassene Ulisse-Partitur ist sehr fragmentarisch. Sie ist mehr spartanisch notierte Materialgrundlage als endgültige Kompositionsvorlage. Das bedeutet nicht weniger, als dass sich Regisseur, Dirigent und Orchester für jede Inszenierung ihre eigene Partitur erarbeiten müssen. Das Fragment ist mit einfacher Melodie- und Basslinie bei fehlenden Tempoangaben zu ergänzen.

Lada folgt dieser Zwangsläufigkeit mit der ihm eigenen Diktion und Konsequenz. Statt Odysseus barocken Schöngesangs elektronischer Beat, statt eines einzelnen Odysseus sechs Menschen mit Migrationshintergrund, genannt die Männer aus Basel. Anders als Odysseus, der nach langer widriger Seefahrt, von Neptun immer wieder in Seenot getrieben, schlussendlich in seine Heimat Ithaka zurückkehrt, leben die Männer aus Basel oft schon lange in der Schweiz. Sind aber keine Rückkehrer, sie sind Angekommene.

Wie auch immer, Lada besteht auf seinem Projektionsflächenkonstrukt. Programmatischer Ausgangspunkt ist ihm der Prolog L’humana fragilità. Die von Eitelkeiten getriebenen Menschen weisen die Götter in ihre Schranken. Sie werden zum Spielball der Götter von Zeit, Schicksal und Liebe. Die männlichen Solisten sind strafende Götter und umtriebige Verehrer Penelopes, die seit 20 Jahren auf ihren Gatten Odysseus wartet, zugleich.

Penelope, eingezwängt in eine nach vorn geöffnete Kiste, beklagt ihr Schicksal in der ersten Szene gleich zwei Mal: Tu sol del tuo tornar perdesti il giorno. Begleitet von Harfe und Theorbe, nimmt die bühnenpräsente Mezzosopranistin Katarina Bradić eine kantable Koloraturspur mit ihrem dunklen, samtig schimmernden Timbre auf. Bradić verkörpert mit Penelope eine Frau, die sich der von den Göttern gewollten menschlichen Zerbrechlichkeit entgegen stellt. Mit Hilfe von Minerva – Stefanie Knorr charakterisiert sie mit lyrischem, gleichwohl selbstbewusst kraftvollem Sentiment – steht sie ihren Kampf gegen die buhlenden Verehrer durch.

Foto © Judith Schlosser

Für die Götter hat Monteverdi einen gleichsam übermenschlichen Gesang mit tückischen Koloratur-Fallhöhen geschrieben. Der Countertenor Théo Imart leiht Amor eine Stimme, die anderen, höher gehandelten Sängern seines Faches in keiner Weise nachsteht. Seine Stimmgebung ist ungemein durchscheinend, in den Höhen klar artikulierend. Neben dem raumfüllenden Telemachos von Jamez McCorkle die Tenorstimme des Abends.

Von Amor angetrieben, streitet Jupiter mit Neptun über die Angemessenheit seines Schicksalsspiels während der Überfahrt des Odysseus von Troja nach Ithaka. Auf überdimensionierten Eisenleitern, gesichert durch Klettergürtel, turnen sie zwischen Himmel und Erde. Rolf Romeis Tenor streitet für Jupiter, wie der in den Tiefen dröhnende Bass von Alex Rosen nicht gewillt ist, Neptuns göttlichen Anspruch, den Menschen eine Lektion zu erteilen, zurückzunehmen.

Die menschlichen Helden – der Halbgott Odysseus kommt als Sänger, wie gesagt, nicht vor – Penelopes und Odysseus Sohn Telemachos und der Hirt Eumaios – Ronan Caillet gibt ihn als den agil agierenden, den Deal mit dem Bogen einfädelnden Vertrauten Odysseus – äußern sich bevorzugt in rezitativischen Deklamationen.

Die Inszenierung nimmt einen langen Anlauf. Die Gewöhnung an den Klangwechsel sowie an jene die Requisite wie Blumenbeet, Holzpferd und Penelopes Gehäuse hin- und her schiebenden Bühnenarbeiter hat ihren Preis. Im zweiten Akt nimmt das Geschehen glücklicherweise eine ständig überzeugendere Struktur an. Die Bühnenarbeiter haben ihren Teil getan. Die Bühne gehört jetzt allein den Protagonisten.

Selbst die elektronischen Klangcollagen sowie eingespielte Audio-Aufzeichnungen von Gesprächen mit den Männern aus Basel verzahnen sich mit Sinfonia und Ritornelle der I Musici de la Cetra und den Solisten zu einem ganz eigenen, adaptierten Monteverdi-Klang.

Das Fragmentarische der Monteverdi-Partitur assoziiert in der Lada-Intention fast wie selbstverständlich den Wechsel der Götter zu den Menschen, zu den Verehrern von Penelope. Während Telemachos und Eumaios mit Minervas Hilfe Penelope über die Anwesenheit Odysseus in der Gestalt des Greises zu überzeugen versuchen, finden die Götter im Hintergrund nicht in die Anzüge der Menschen hinein. Sie verhaken und verknoten sich.

Als Amphinomos, Pisandro und Antinoos, gescheitert im Versuch, Odysseus Bogen zu spannen, überzeugen Imart, Romei und Rosen schauspielerisch und sängerisch in Ladas Inszenierung stringent und witzig. Am Ende des Machtkampfs bleibt Iros, der Vielfraß, auf der Strecke. Seine Gönner sind nicht mehr – und er hat nichts zu essen. Martin Hugs Iros klagt seine Not mit schmachtendem Canto italiano in einer umwerfend komischen Lamento-Parodie. Ein komödiantisches Kabinettstück, das mitunter als Minus bei Monteverdi auszumachen ist, aufscheinen lässt.

Iros ist ein Dokument des Irrsinns, nicht von Trauer um die Toten getragen zu sein. Allein sein leerer Bauch ist noch wichtig. Deutlicher hätte Monteverdi die Idee des Librettos von Giacomo Badoaro, den Sittenverfall gesellschaftlichen Verhaltens zu zeigen, nicht reflektieren können.

Die Inszenierung stülpt dem Iros allerdings, unnötig freihändig ausufernd, noch empathisch gemeinte Erklärungen zu einheimischen und fremdartigen Wiesenkräutermischungen über, die das satte schweizerische Grün erst zum Leuchten brächten.

Im ähnlichen Modus einer überdehnten political-correctness-Willkommenskultur begrüßt Penelope abschließend jeden einzelnen Mann aus Basel mit der Formel ihrer späten Erkenntnis, dass wahrhaftig Odysseus vor ihr stehe: Okan, Erosi, Antal, Boris, Vinu – Or si ti reconosco.

Eine philosophisch anspruchsvolle wie mitunter Monteverdis barocke Komposition arg beutelnde Inszenierung ist hier zu sehen, die sich aber letztlich nachhaltig zu einem Ganzen fügt. Großer Applaus von einem nach 150 Minuten ohne Unterbrechung sichtlich angestrengten wie aufgekratzten Publikum.

Peter E. Rytz