O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Martin Sigmund

Aktuelle Aufführungen

Im Angesicht der Cherubim

DIE FRAU OHNE SCHATTEN
(Richard Strauss)

Besuch am
1. April 2023
(Premiere)

 

Festspielhaus Baden-Baden

Vor solchen Blicken liegen Cherubim auf ihrem Angesicht!“ Im zweiten Akt von Die Frau ohne Schatten gilt diese Aussage der Kaiserin nach ihrem Erwachen aus unruhigem Schlaf dem Auge des sich quälenden Mannes, des Kaisers. Unter dem Eindruck der Eröffnung der Baden-Badener Osterfestspiele mit einer Neuinszenierung der Oper von Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal könnte der Ausruf von Keikobads Tochter auch der instrumentalen musikalischen Performance, den Berliner Philharmonikern und ihrem Chefdirigenten Kirill Petrenko, gelten. Sie sind es mit ihrer hohen Klangopulenz und ihrem tiefen Verständnis für die Komplexität wie die Feinheiten der Partitur, die den Besuch in Deutschlands größtem Festspielhaus zu einem Ereignis machen. Über das Regiekonzept von Lydia Steier mag getrost in gelassener Haltung diskutiert werden, gern stehend.

Kaum ein Werk wie die wohl fantasievollste gemeinsame Schöpfung von Komponist und Textdichter eignet sich so sehr für die Eröffnung einer Opernfestivität, die auf Glanz und Aura setzt. Karl Böhm, als Dirigent in der Nachfolge von Strauss, baut für die Interpretation des Werks eigens ein Ensemble auf, das mit Aufführungen Ende der 1970-er Jahre Legendenstatus erringt. Petrenko erwählt es 2013 zum Debüt seiner Amtszeit als GMD an der Bayerischen Staatsoper. Mit dem Versprechen von Intendant Benedikt Stampa, es werde 2023 die „aufwändigste Oper in der Geschichte des Festspielhauses“ geben, werden nicht gerade geringe Erwartungen geweckt. Es folgen ihm auf der Bühne Taten, die einen neuen Maßstab im Hinblick auf das personelle und technische Aufgebot markieren. Die aus orientalischen und nordischen Mythen gespeiste Parabel von der Menschwerdung durch gegenseitige Verwandlung avanciert zu einem Fest der Schauwerte.

Steier darf in den generösen Raumkapazitäten des Festspielhauses aus dem Vollen schöpfen. Hofmannsthals Schauplätze, die Terrasse über den Kaiserlichen Gärten, das einfache Haus des Färberpaares, das Schlafgemach der Kaiserin im Falknerhaus und das unterirdische Gewölbe werden zu einem Ausstattungspanorama gedehnt, das zwischen dem Revuetheater und einer Fantasiewelt im Stil von Das Phantom der Oper pendelt, aufgeladen mit Stereotypen des Varietés und Symbolen des religiösen Kitschs.

Im ersten Bild begnügt sich Steiers Ausstattungsriege im Bühnenbild von Paul Zoller, mit den Kostümen von Katharina Schlipf im Licht Elana Siberskis mit der Imagination von Hollywood-Glamour. Die Kaiserin schwebt in einem Outfit aus Gold und Rosa aus einem Himmelbett die Treppe hernieder in die Welt der Menschen, in die Videos von Momme Hinrichs den Einzug von Realität markieren. Bilder von Menschen auf der Suche nach Brot und Arbeit. Der Kaiser verabschiedet sich von seiner Frau für „drei Tage“ zur Jagd, wirkt aber in seinem weißen Smoking wie ein Zirkusimpresario.

Danach kommt es massiv. Die Färberei Baraks und seiner Frau ist zu einer Fabrik mit Verkaufsshop mutiert, in die eine obere, der Kaiserin vorbehaltene Ebene eingezogen ist.  Arbeiterinnen in extrem langsamen Bewegungen hinter Glas sind mit der Produktion von Babys beschäftigt, sei es in Echt, sei es aus Kunststoff. Das Ambiente der Auslagen mit einer Kollektion von Mustergeschöpfen ist in Rosa gehalten. Im dritten Akt bewegen sich die Protagonisten vor einem schräg gestellten Spiegel, der den aus der Kulisse hereinrollenden Fantasiefiguren eine magische Brechung verleiht, einer überdimensionalen Marienfigur und dem Götterboten auf dem Sonnenwagen des Pharaos.

Auch die Treppe des Beginns erlebt eine Reprise. Auf ihren Stufen vollzieht sich das Schicksal des Kaisers, seine Versteinerung wie seine Erlösung Zu den mobilen Raumelementen gehört auch ein Vogelbauer in Menschengröße, das aber unbehaust bleibt.

In das Handlungsgerüst aus Märchen und Mythen zieht Steier zusätzlich eine Rahmenhandlung ein. Sie fügt eine bei Hofmannsthal nicht vorgesehene Figur ein, ein Mädchen, eher schon eine sehr junge Frau, die viel zu jung Mutter geworden ist und mutmaßlich ihr Kind verloren hat. Das Mädchen teilt im ersten Bild mit anderen den Schlafsaal eines Klosterinternats, überwacht von Nonnen mit strenger Gestik, die von der Amme kommandiert werden. Die junge Frau erlebt das Geschehen um Erringen wie Versagen des Schattens, des Symbols der Mutterschaft, wie es scheint, als ihren persönlichen Albtraum. Als Projektion ihres sehr persönlichen Traums und Traumas.

Die symbolische Verdichtung dieser Projektion, das Bett aus dem Kloster, entwickelt Steier zum running fact dieser Aufführung. Es wird durch die Kulissen geschoben, dient den drei Brüdern des Färbers als Platz zum Ausruhen. In einer Szene legt sich der Färber zu der jungen Frau in dieses Bett und seinen Arm um sie. Könnte sie das Opfer eines sexuellen Missbrauchs geworden sein? Schwer vorstellbar, dass diese Vermutung ausgerechnet mit Barak, diesem gutherzigen Mann, zu tun haben könnte, dem seine Frau eigene Kinder verweigert. Der Kunstgriff Steiers öffnet die Tür zu einem packenden Schlussbild, das das Jubelquartett der beiden Paare mit den Stimmen der ungeborenen Kinder im Hintergrund relativiert. Fieberhaft ist das Mädchen, nun allein auf der Bühne, damit beschäftigt, Erdhaufen nach etwas zu durchsuchen, während vom Bühnenhimmel welke Blätter auf diese trostlose Szene fallen. Der Albtraum ist nicht zu Ende. Mit den Kindern unserer Welt, scheint das Bild sagen zu wollen, steht es auch heute nicht zum Besten.

Zu ihrer Rahmenhandlung sagt die Regisseurin, diese mache es einfacher, der Geschichte zu folgen. Das lässt sich so sehen, ist aber Auslöser einer folgenreichen Problematik. Vivien Hartert spielt das Mädchen so intensiv und so hingebungsvoll, dass ihre Aktion irritierend quer liegt zur ohnehin aufgeladenen Musik, die die ganze Konzentration verlangt. Es gibt indes weiter reichende Effekte von Steiers dramaturgischem Eingriff.

Die Rezeption der Oper ist häufig auf die monothematische Annahme verkürzt, in dem Stück gehe es einzig und allein um den exklusiven Stellenwert der Mutterschaft für die Menschwerdung der Frau. Indem die Regisseurin diese Einschätzung durch die Konzentration auf den Mythos der Mutterschaft noch verstärkt – auch durch das imaginierte Schicksal der jungen Frau – rückt die humane Dimension Hofmannsthals in den Hintergrund.

Exemplarisch vorgeführt mit den hochromantischen Mitteln des Märchens wird der Prozess des Menschen zu sich selbst. Die Kaiserin widersteht im zentralen Topos der Versuchung, eigenes Glück durch das Unglück anderer zu erkaufen. Erst durch Entwicklung von Mitgefühl verdient derjenige – wie in Wagners Parsifal – Mensch zu werden, der sich ändert. Die Überwindung des Ich erreicht man aber nur durch Empathie, die Fähigkeit, den anderen verstehen und letztlich lieben zu wollen.

Will Steier – die Spekulation sei gestattet – mit ihrem Konzept auch unter dem angedeuteten Vorzeichen der Bedrohung unseres Planeten ernst genommen werden, fehlt es an der Tiefe. Über nicht gelingende Mutterschaft – sei es biologisch begründet, sei es gewollter Verzicht im demografisch-ökologischen Maßstab – kann sehr wohl anders gedacht werden, auch moralisch.

Last not least tangiert das Regiekonzept die Balance zwischen Musik und Handlung, die  Petrenko mit seinen exquisit besetzten Philharmonikern souverän wahrt. Die Partitur ist unter dem Aspekt der Orchestrierung in drei Welten gegliedert, in das Format des Kammerorchesters für die Geisterwelt, das große Orchester für die Menschenwelt und ausgewählte Solisten des Orchesters für die von der Amme repräsentierten Zwischenwelt. Petrenko fügt die unterschiedlichen Ton- und Stimmungsbilder wie die Flügel eines Tryptichons zu einem musikalischen Monument zusammen, das auch den Sängerdarstellern Raum zur Entfaltung lässt. So entsteht mit den bombastischen Tutti-Passagen, angetrieben von dem dynamischen Schlagwerk inklusive Gongs und Glockenspiel, bis hin zu den raffinierten Soli-Momenten der Celli, der Flöte und der Klarinette ein Rausch der Sinne, wozu auch die vorzüglichen Chöre, der Chor des Nationalen Musikforums Wroclaw sowie Cantus Juvenum Karlsruhe, beitragen.

Eine Aufführung der Frau ohne Schatten verlangt fünf vokale Akrobaten, die höchsten Ansprüchen genügen. Die Baden-Badener Besetzung liefert Qualität auf Festspiel-Niveau, die Impasto-Momente auf dem grandiosen Klangbild. Michaela Schuster in der Rolle der Amme und Wolfgang Koch als Barak kommt zugute, dass sie diese Partien schon seit vielen Jahren singen und routiniert beherrschen. Damit ist freilich nicht ausgeschlossen, dass sie sich steigern und Schuster durch grelle Tonsprünge das Dämonische ihrer Rolle packend vermittelt. Bewegend fällt Kochs Bekenntnis zu seiner Frau aus. Mir anvertraut, dass ich sie hege, dass ich sie trage, das in einem melodischen Duett beider mündet, erblüht zu einem hochromantischen Höhepunkt der Aufführung.

Clay Hilley als Kaiser erreicht Heldentenor-Format. Sein stärkster spielerischer Effekt ist ihm vergönnt, nachdem er minutenlang auf der Treppe im weißen Frack tänzelt und danach sein steinernes Abbild von dieser herunterstürzt und in Gesteinsbrocken zerbirst, bevor er als geläutertes Wesen wieder in das Märchenspiel eintaucht. Elza van den Heever ist mit flexibler Stimme eine Kaiserin, die ihre Rolle in der Attitüde eines Glamourgirls interpretiert. Bei ihr sind Witz und Komik imprägniert, so sie sich beispielsweise nicht zu schade ist, mit einem Schrubber minutenlang den Boden im Färberhaus zu bearbeiten. Miina-Liisa Värelä gestaltet als Färberin die vielfältigen Schattierungen dieser Rolle mit Vehemenz, grell die Entsagung von der Mutter-Rolle, einschmeichelnd ihre Rückkehr in das Reich der Liebe. Ihr Gattin zum Gatten! Einziger mir! wird von den Stimmen der Ungeborenen traumverloren aufgenommen.

Das Publikum im fast ausverkauften Festspielhaus feiert Petrenko und seine Philharmoniker bereits nach den beiden Pausen mit tosendem Beifall. Beim jubelnden Schlussapplaus wächst sich der zu einem Orkan der Zustimmung aus, der mit geringen Nuancen allen Mitwirkenden gilt, auch dem Regieteam. Darin mag schon ein Funke Vorfreude auf die Osterfestspiele 2024 liegen. Die Berliner Philharmoniker mit Petrenko am Pult werden dann wieder ein Strauss-Orchester sein und ihre Kunst Elektra schenken.

Ralf Siepmann