O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Collectief Mamm - Foto © O-Ton

Aktuelle Aufführungen

Auf hohem Niveau

DANCE FLAVOURS PERFORMANCE NIGHT
(Diverse Choreografen)

Besuch am
21. November 2022
(Einmalige Aufführung)

 

Danscollectief Arnhemse Meisjes im Theater aan de Rijn, Arnheim

2002 schlossen sich verschiedene Kunsthochschulen und Akademien in Arnheim, Enschede und Zwolle in den Niederlanden zur ArtEZ zusammen. Das Kunstwort beinhaltet die drei Anfangsbuchstaben der beteiligten Städte und das Wort art für Kunst. Seither gibt es nicht weniger Institute, aber dafür gingen klangvolle Namen wie der der Danceakademie Arnhem, gegründet 1930, unter dem Dach unter. Parallel dazu verließen immer mehr Absolventen der Danceakademie nach ihrem Abschluss die Stadt. 2015 fand in der Stadt kein nennenswerter zeitgenössischer Tanz mehr statt. Grund genug für sechs Tänzerinnen, im selben Jahr die Tanzszene der Stadt wiederzubeleben. Das Danscollectief Arnhemse Meisjes war geboren. Neben zahlreichen Aktivitäten wurde die Dance Flavours Performance Night ins Leben gerufen, eine Veranstaltung, die dreimal im Jahr stattfindet und dem Nachwuchs eine Plattform bietet. Vom work in progress bis zur Uraufführung ist hier alles möglich, und das Interesse bei Publikum und Tänzern ist bis heute ungebrochen. Gleichwohl kann ein Blick auf die vollbesetzte Tribüne den Eindruck nicht verhindern, dass es sich hier eher um eine Art verlängerter Werkbank der Tanzakademie handelt. Was grundsätzlich richtig sein kann, denn hier kommen auch Absolventen gern wieder her.

Die Dance Flavours Performance Night findet im Theater aan den Rijn statt. Für Einheimische möglicherweise eine bekannte Anlaufadresse, versteckt sich das Gebäude förmlich vor den Blicken von Gästen, die von außerhalb kommen. Wenn das Navigationssystem längst die Ankunft verkündet, ist weit und breit kein Theater zu entdecken. Es braucht schon einige Fantasie, um das Tor zu durchschreiten, an dem weder eine Hausnummer noch ein Hinweisschild zu entdecken sind, stattdessen Parkverbotsschilder Besucher abschrecken. Die Aufschrift an dem im Hinterhof gelegenen Gebäude ist von der Straße aus – zumindest in der Dunkelheit – unsichtbar. Hier gibt es deutliche Verbesserungsmöglichkeiten. Dabei braucht sich das Theater beileibe nicht zu verstecken. Eine kuschelige Bar im Erdgeschoss, im zweiten Obergeschoss ein Bühnenraum, der vor einer Tribüne ausreichend Platz bietet, um zeitgenössischen Tanz darzubieten. Hier kann man die 17. Ausgabe der Dance Flavours Performance Night genießen.

Paula Niehoff – Foto © O-Ton

Danielle Gallia-Kind präsentiert mit Mothers ein unvollständiges Stück, das sich mit den körperlichen Entwicklungen des Mutterleibes auseinandersetzt. Auf dem Boden steht ein Vermögen in Form von Notebooks und Beamern herum. Damit nehmen sich Gallia-Kind und Noa Simons auf, nachdem sie in schwarzer Unterwäsche auf der Bühne erschienen sind. Die Projektionen werden auf den Seitenwänden gezeigt. Beide sind Mütter. Sie präsentieren Zellulitis, ausgeleierte Bäuche, Saugreflexe, die schmerzhaft anmuten. Da ist die Projektion im Hintergrund, die Gallia-Kind mit einem Baby auf den Armen zeigt, noch das Optimistischste des 20-minütigen Auftritts. Aus Sicht des Jugendlichen mag das abschreckend sein, wenn die eigene Figur plötzlich zum Archiv des Mutterseins wird. Rückblickend hat man diese Veränderungen als natürliche Entwicklung angesehen. Man empfand es als vollkommen natürlich, dass sich der Körper der Frau mit der Schwangerschaft und den Nachwehen verändert. Und trugen nicht gerade diese Veränderungen auch dazu bei, die Gemeinschaft in der Ehe zu stärken, weil es eine gemeinsam erlebte Metamorphose war? Vater und Kind lieben weiterhin jeden Zentimeter dieser Haut, wenn im günstigsten Fall nicht jeden Tag mehr. Ob und wie es möglicherweise zu einem versöhnlichen Schluss kommt, soll hier nicht verraten werden. Schließlich steht im Mai kommenden Jahres die Uraufführung an.

Das Juwel dieses Abends macht sicher die Arbeit von Paula Niehoff in Gestalt von Agatha aus. Die Person, die die Bühne mit einem Koffer betritt, verbirgt ihr Gesicht unter einem Hut. Ein weites Sakko versteckt ihren Körper. Um dessen Form geht es nicht. Es geht um das Wiedererwachen der Bewegungsfähigkeit nach einem Trauma, einer Hypnose, einer Operation – näher wird das nicht bestimmt. Niehoff brilliert mit einer Bewegungssprache, die von Wiederentdeckung, Unsicherheit und Widerstand erzählt. Dabei werden die tragischen Situationen ebenso ausgekostet wie die komischen. In knapp 20 Minuten erzählen abknickende Füße, pochende Finger und schlackernde Knie von der Wiederbelebung einer Person, die erst allmählich in ein selbstbestimmtes Leben zurückkehrt. Sorgfältig ausgewählte Musik von Franz Schubert über Nadia Reisenberg bis Clara Rockmore unterstreicht die Wirkung des Solos. Das Stück ist so stark, weil es auch beim Zuschauer Assoziationen auslöst. Dieses Torkeln und Wanken, Zaudern und Zagen – da mag man schon mal unwillkürlich an das eigene Leben denken. Anfang dieses Jahres hat der Vorläufer bereits einen Preis beim SoloDuo-Festival in Köln abgeräumt, ehe das eigentliche Werk im Juni in Barcelona zur Uraufführung kam. Von der Choreografin darf man sich in Zukunft noch einiges erhoffen.

Noa Simons und Danielle Gallia-Kind – Foto © O-Ton

Nach einer satten halben Stunde Pause, die hier vollkommen normal zu sein scheint, steht ein weiteres Solo auf dem Programm. Auf der Bühne, die nun von einem weißen Vorhang nach hinten abgeschlossen wird, steht lediglich ein Scheinwerfer auf dem Boden, der mit der Vielzahl von Verlängerungskabeln am Strom angeschlossen ist. Amit Palgi nennt sein viertelstündiges Stück 4|2|3, warum auch immer. Auch das Zitat im Abendzettel bietet wenig Erhellendes. Palgi zieht, während er sich, ganz in Weiß gekleidet, die schwarzen Kabel immer wieder um den Hals hängt, mehrfach den Stecker. Schließlich entkleidet er sich vollständig, immer das riesige Schattenbild auf dem Vorhang hinter ihm im Blick. Die Geschichte, die das Schattenbild erzählt, ist der Aufwuchs des Kindes zum kräftigen, ja, kraftstrotzenden jungen Mann, der schließlich im Alter regrediert. Zumindest könnte das eine Interpretation sein, die hilft, das Geschehen auf der Bühne zu verstehen. Jedenfalls gelingt es Palgi, das Publikum in seinen Bann zu ziehen.

Für Twentysomething braucht es jede Menge Stühle. Finden zumindest die Choreografen Maxime Abbenhues und Mees Meeuwsen, die für das 20-minütige Stück Linda Wagemakers und Niek Wagenaar mit auf die Bühne holen. Mit einer gehörigen Portion Selbstironie stellen sie Ansprüche und Ansichten ihrer Generation in Frage, die doch genauso lange umweltbewusst ist, wie es in den Alltag passt, genauso fleißig ist, wie es ihre Work life balance erlaubt und gerne alles in Zweifel zieht, was in älteren Generationen als recht und billig galt. Letzteres ist wohl das Recht und die Pflicht jeder Generation. Der Eindruck einer äußerst gelungenen Choreografie zwischen rasanten Tanzeinlagen und müden Pausen, die sitzend verbracht werden – allenfalls die Hände können sich da noch bewegen wie beispielsweise zum Don’t Stop Me Now von Queen – wird ein wenig getrübt durch die Alltagskleidung, in der die jungen Leute ihren Einsatz bewältigen. Ja, man kann es als Signal verstehen, dass die über 20-Jährigen so cool sind, dass sie für einen Bühnenauftritt nicht einmal mehr ein Kostüm benötigen, das träfe ganz gut die Selbstüberschätzung mancher Jugendlicher, aber wirklich cool wird es dadurch nicht. Ansonsten darf auch hier so manches Mal geschmunzelt werden. Gewonnen haben die vier allemal durch ihre Fähigkeit, selbstkritisch mit sich umzugehen.

Die 17. Ausgabe der Tanzgeschmäcker geht mit brausendem Applaus und anschließend gemütlich zu Ende. Hier laufen nicht alle gleich weg. Zumal es über das, was der Nachwuchs an diesem Abend abgeliefert hat, noch so manche Laudatio zu halten gibt.

Michael S. Zerban