O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Ruth Walz

Aktuelle Aufführungen

Eurydices „Liebestod“

EURYDICE – Die LIEBENDEN, BLIND
(Manfred Trojahn)

Besuch am
8. März 2022
(Uraufführung am 5. März 2022)

 

Nationale Opera & Ballet Amsterdam

Manfred Trojahn gehört zu den wenigen zeitgenössischen Komponisten, die es mit einigen ihrer Bühnenwerke zu Repertoireehren gebracht haben. Wobei Opern wie Was Ihr wollt, Enrico oder Limonen aus Sizilien ihren Erfolg nicht zuletzt den bühnenwirksamen Handlungen und der schillernd-vitalen Musik Trojahns zu verdanken haben. Allerdings hat sich der mittlerweile 71-jährige, in Düsseldorf und Paris ansässige Komponist weiterentwickelt und der frühe Tod seiner Librettisten Claus H. Henneberg und Christian Martin Fuchs bewogen ihn, auch die Libretti selbst zu verfassen. Sein erster Versuch gelang ihm 2011 in Amsterdam mit der Oper Orest, in der Trojahn eine introvertiert ausgerichtete Perspektive einnimmt und den Blick von der äußeren Handlung in die Seelen der Figuren richtet. Eine verinnerlichte Ästhetik, die er kurz vor der Pandemie an der Bonner Oper noch mit der halbstündigen „reflexiven Szene“ Ein Brief auf einen Text von Hugo von Hofmannsthal verfeinerte.

Die zweijährige Pandemie nutzte Trojahn nicht zuletzt, seine neue, nach elfjähriger Zäsur erste große Oper für die Amsterdamer Oper vorzubereiten, die jetzt im Rahmen des Opera Forward Festivals 22 als Hauptwerk uraufgeführt wurde. Eurydice – Die Liebenden, blind nennt Trojahn seine zweieinhalbstündige, selbst getextete Oper, die auch in der ersten Reprise auf begeisterte Zustimmung im erfreulich gut gefüllten Muziektheater stößt.

Die Reflexion der Bewusstseinsebenen und seelischen Spannungen verdichtet Trojahn in den drei Akten des Werks auf innere Monologe und Scheindialoge von Eurydice und Orpheus. Es entfaltet sich ein Spiel um Nähe und Distanz, Anziehungskraft und Entfremdung, trügerischer Erinnerungen an die Vergangenheit und einer ebenso brüchigen Wahrnehmung der Gegenwart, das Trojahn mit seiner filigranen, gleichwohl suggestivkräftigen Musik abendfüllend unter Spannung halten kann. Ein Effekt, der durch die grandiose Besetzung und die hintergründige Inszenierung von Pierre Audi verstärkt wird.

Die Handlung: Orpheus begleitet Eurydice in einem Zug auf der Reise in ein unbekanntes Ziel. Der Schaffner entpuppt sich als Pluton und erscheint in diversen Rollen früherer Liebhaber Eurydices. Orpheus versucht vergebens, die Reise ins Ungewisse abzubrechen. Im zweiten Akt verwandelt sich der Zug in eine Fähre, die die beiden an die Grenze zur Unterwelt bringt. Während Eurydice eintreten darf, wird Orpheus zurückgewiesen. Proserpina erweicht Pluton, so dass Orpheus seiner Geliebten folgen darf. Allerdings mit der bekannten Vorgabe, sie nicht ansehen zu dürfen. Eurydice befindet sich bereits in einem jenseitigen Zustand, in dem ihre Erinnerungen verblassen. Offenbar hat sie im Unterschied zu Orpheus den Tod akzeptiert. Im Libretto fordert Eurydice ihren Geliebten auf, sie zu umarmen. Der Regisseur geht einen Schritt weiter, indem Eurydice Orpheus bewusst umdreht und an sich zieht. Orpheus sinkt tot zu Boden. Ob sie sich im Totenreich vereinigen können, bleibt offen.

Eurydices großer Schlussmonolog an der Leiche Orpheus‘ weckt natürlich Assoziationen an Isoldes Liebestod, was Trojahn auch gar nicht abwegig findet. Schließlich handelt es sich in beiden Fällen um Liebespaare, die im Diesseits nicht zueinander finden können oder dürfen. Ob es ihnen im Jenseits gelingt, das lassen sowohl Wagner als auch Trojahn unbeantwortet. Wobei Trojahn offenlässt, ob Eurydice die Vereinigung, wo auch immer, überhaupt will. Schließlich empfindet sie sich im Totenreich als die „Königin“, die sie schon immer sein wollte.

Foto © Ruth Walz

Nicht überraschend, verzichtet Trojahn auf eine rauschhafte Apotheose wie im Tristan. Musikalisch lässt Trojahn seiner Faszination für die französische Musik hier noch freieren Lauf als in früheren Stücken. Natürlich kopiert er in keinem Takt Debussy oder Dukas. Aber die sensible, farbig schillernd, bisweilen kulinarisch schön strömende Musik, mit der er die seelischen Wanderungen der Figuren zwischen irrealen und realen Sphären sinnlich verfeinert, erinnert zwangsläufig an ähnlich gestrickte Werke wie Debussys Pelléas et Mélisande oder Paul Dukas‘ Ariane Barbe-Bleue. Beides auf Texten von Maurice Maeterlinck gestützte Opern, die in ihrer symbolistischen Verschlüsselung Trojahns Libretto nicht fernstehen.

Der Titel stellt nicht ohne Grund Eurydice in den Mittelpunkt und nicht Orpheus. Sie ist die aktive Figur, die ihr Schicksal akzeptiert, während Orpheus eigentlich nur reagiert. Eine gewaltige Herausforderung für die Sängerin, die Julia Kleiter mit bewundernswerter darstellerischer und vokaler Präsenz bewältigt. Mit ihrem strahlenden, mühelos ansprechenden Sopran und ihrer persönlichen Ausstrahlung vermag sie jede Nuance ihrer komplexen Partie glaubhaft zum Ausdruck zu bringen. An darstellerischer Intensität und stimmlicher Qualität lässt es auch der Bariton Andrè Schuen als Orpheus nicht fehlen. Ebenso wie Katia Ledoux als Proserpina und Thomas Oliemans als Pluton. Acht Stimmen des Chors ergänzen die Handlung mit vier Sonetten an Orpheus von Rainer Maria Rilke. Geheimnisvoll aus dem Off tönend, den Blicken des Publikums entzogen. Und das Netherlands Philharmonic Orchestra sorgt unter der Leitung von Erik Nielsen für eine nicht minder spannende und filigran ausgefeilte orchestrale Unterstützung.

Ein Glücksfall ist sicher auch die Verpflichtung von Pierre Audi als Regisseur, dem die Amsterdamer Oper aus seiner Zeit als Intendant bemerkenswerte, bis heute nachwirkende Höhenflüge verdankt. Audi führt die feinen Wechsel zwischen realen und unbewussten Sphären mit konzentrierter Energie und noch mehr Sensibilität aus. Angesiedelt in düsteren Bühnenbildern von Christoph Hetzer, gipfelnd in Plutons Fähre und dem Tor zur Unterwelt. Bewehrt mit bedrohlichen Wachtürmen, die nichts Gutes verheißen. Und die Unterwelt stellt sich als ein einerseits beklemmend umnebeltes Schattenreich des Todes, andererseits in seiner Größe und Leere als Ort der Freiheit dar. Nur zeitweise angefüllt mit lemurenhaft umherwandelnden Gestalten und einem überdimensionalen Kadaver eines Insekts, vor dem der Mensch, die vermeintliche „Krönung der Schöpfung“, auf die Größe einer Larve schrumpft.

Begeisterter Beifall des erfreulich jungen und zahlreichen Publikums für ein beeindruckendes Werk Manfred Trojahns, das allerdings in seiner diffizilen Zerbrechlichkeit auf ein Spitzenensemble wie das in Amsterdam angewiesen ist, um seine introvertierte Spannung entfalten zu können.

Pedro Obiera