O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Marie-Luise Manthey

Aktuelle Aufführungen

Fremdgesteuerte Eiskönigin

TURANDOT
(Giacomo Puccini)

Besuch am
27. Februar 2022
(Premiere am 20. Februar 2022)

 

Theater Aachen

Carmen, Die lustige Witwe, Turandot: Auf den ersten Blick erweckt der Spielplan der ersten Hälfte der Saison den Eindruck, als wäre der Normalzustand ins Theater Aachen eingekehrt. Dabei wurden die Aachener Bühnen gleich zu Beginn der Pandemie mit fast 40 Infektionen innerhalb des Ensembles besonders hart getroffen. Darunter waren mehrere schwere Verläufe zu beklagen, von denen auch Intendant Michael Schmitz-Aufterbeck nicht verschont geblieben ist.

Schmitz-Aufterbeck öffnete das Theater deshalb bis zum letzten Herbst äußerst vorsichtig und noch zögerlicher als die meisten seiner Kollegen im Rheinland. Kleine Stücke in Mini-Besetzungen standen auf dem Programm, und mit dem Aachener Sinfonieorchester ging er in den Probensaal und streamte die Sinfoniekonzerte online. In der vorletzten Saison seiner dann 18-jährigen Amtszeit versucht er jetzt, vieles nachzuholen. Und das im Musiktheater neben kleiner bestückten Werken wie Francesco Cavallos Barock-Oper La Calisto und Philip Glass‘ Märchenoper Die Schöne und das Biest mit gleich drei attraktiven Choropern, wobei allerdings große Abstriche bei der Besetzung von Chor und Orchester in Kauf genommen werden müssen.

Das trifft die jüngste Produktion mit einer Neuinszenierung von Giacomo Puccinis letzter Oper Turandot besonders hart. Mit einfach besetzten Bläsersätzen in Holz und Blech lassen sich die Strahlkraft und das Volumen, die gerade die Turandot verlangt, nicht entfalten. Da kann Generalmusikdirektor Christopher Ward den dynamischen Pegel noch so hochschrauben. Es wird nur laut, aber nichts leuchtet brillant auf. Auch Wards straffe Tempi helfen nicht weiter, sondern bringen in den ersten beiden Aufführungen allenfalls den Chor in Bedrängnis.

Mit großer Spannung erwartet man den Auftritt von Leyla Martinucci in der kräftezehrenden Titelpartie. Für die ehemalige Mezzosopranistin aus einer berühmten Sängerfamilie steht nicht nur ein Rollen-Debüt an, sondern zugleich die erste große Sopran-Partie ihrer Karriere. Ein Husarenritt, den sie mit ihrer frischen, kerngesunden und technisch makellos geführten Stimme sicher und nahezu mühelos bewältigt. Eine angenehme Überraschung, die dennoch die Frage aufwirft, ob solche Mammutpartien am Beginn eines Fachwechsels der Stimme mittelfristig dienlich sein können.

Foto © Marie-Luise Manthey

Zu den vokalen Höhepunkten der Aachener Turandot zählt Larisa Akbari als Liu mit großen lyrischen Qualitäten. Angestrengter wirkt Timothy Richards als Calaf, der die Partie dennoch achtbar stemmt. Die kleineren, meist ordentlich besetzten Rollen unterstreichen die sorgfältige Ensemblepflege des Hauses.

Regie führt Ewa Teilmans, die Gattin des Intendanten, die große Sympathien für die „von Eis umgürtete“ Prinzessin empfindet. Sie stellt die Turandot als fremdgesteuertes Opfer dar, das sich aus verständlichen Gründen nicht in das Ehejoch einspannen lassen will. Dass sich Turandots Sinneswandel im Finale nicht ganz logisch erschließt, liegt nicht zuletzt an der Verwendung des bekannten Rekonstruktionsversuchs von Franco Alfano und dessen ziemlich plakativen Happy Ends. Teilmans hätte lieber die hintergründigere Bearbeitung von Luciano Berio verwendet. Für die reduzierte Orchesterbesetzung erhielt sie jedoch keine Aufführungsgenehmigung.

In den weißen Gemäuern von Bühnenbildnerin Elisabeth Pedross und den kühlen Kostümen von Sarah Borchardt wirkt die Aachener Turandot wie eine „Eiskönigin“. Große Chorauftritte und, mit Ausnahme des hinzukomponierten Finales, das Fehlen glühender Liebesduette sind für Puccini ungewöhnlich und überziehen das Werk mit einer statischen Kühle, die auch Teilmans nicht mildern kann. Auch wenn sie das Leiden der Liu und des greisen Timur sehr menschlich umsetzt.

In dieser Spielzeit stehen in Aachen noch Neuproduktionen von Stephen Sondheims Musical Sweeney Todd und Benjamin Brittens Shakespeare-Oper A Midsummer Night’s Dream an, bevor Michael Schmitz-Aufterbeck seine Abschiedssaison antritt. Der gebürtige Rheinländer übernahm das Theater in einer problematischen Phase. Nachdem Elmar Ottenthal Theater und Orchester künstlerisch und finanziell an den Rand des Ruins steuerte, konnte Paul Esterhazy ab 2001 mit der Berufung von Marcus Bosch zum Generalmusikdirektor das musikalische Niveau wesentlich steigern, während er mit seinen ambitionierten und vergeistigten Regiearbeiten das Herz des Aachener Publikums nicht so recht gewinnen könnte. Das gelang dann ab 2005 Schmitz-Aufterbeck, der zusammen mit Marcus Bosch das Theater auf grundsolide Füße stellte, mit seiner Programmpolitik einen bis heute erfolgreichen Spagat zwischen vorsichtiger Experimentierlust und erdverbundener Bühnenwirksamkeit leistet, so dass ein weites Publikum erreicht werden konnte, ohne sich populistisch zu verbiegen. Bosch führte neue Konzertreihen in Zusammenarbeit mit den Kirchen und der Technischen Universität ein und gründete ein attraktives Sommer-Open-Air-Festival im Stadtpark, womit er die Einbindung des Sinfonieorchesters in das städtische Leben wirksam förderte. Leistungen, auf die sich sein Nachfolger Kazem Abdullah und seit 2018 Christopher Ward stützen können. Wobei Ward als neue Spielstätte ein ehemaliges Straßenbahn-Depot für eine neue Reihe mit moderner oder zeitgenössischer Musik erschloss. Was die Sinfoniekonzerte in dieser Saison angeht, führt er sein Publikum im Eurogress durch die musikalische Landschaft Europas und macht in jedem Konzert in einem anderen Land Station. Was ihm allerdings ebenso wenig wie seinen Vorgängern gelingen dürfte, ist die Errichtung eines angemessenen Konzertsaals, um den akustisch problematischen Eurogress seiner eigentlichen Funktion als Kongresshalle überlassen zu können.

Pedro Obiera