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Es ist die Stunde des Lokalpatriotismus. Und dafür sieht der Konzertsaal im Eurogress Aachen ziemlich schmucklos aus. Nicht mal ein Blümchen für die Bühnenrampe ist drin. Da muss das Sinfonieorchester Aachen schon ein Feuerwerk an Programm auffahren, wenn es sich an diesem Abend ordentlich feiern will. Denn nach eigener Rechnung wird es 301 Jahre alt. Die 300-Jahrs-Feier musste im vergangenen Jahr aus bekannten Gründen ausfallen. Und die mathematischen Grundlagen entziehen sich dem normalen Menschenverstand. Pedro Obiera hat für das Programmheft die Geschichte des Orchesters sehr gelungen aufgedröselt. Hier wird nichts schöngeredet, aber sehr detailliert und kurzweilig durch die Höhen und Tiefen eines städtischen Orchesters geführt. Es ist zu hoffen, dass der Text auch ins Internet übernommen wird. In seiner Biografie jedenfalls erläutert Obiera, dass das Gründungsdatum auf das Jahr 1721 festgelegt wurde, weil zu diesem Zeitpunkt erstmals das städtisch geförderte und geordnete Musikleben festgelegt wurde. Aber man kann die mathematischen Spitzfindigkeiten beiseitelassen, denn die Besucher des heutigen Abends interessieren sich dafür vermutlich ohnehin am allerwenigsten. Sie kommen, um zu feiern, und sie kommen reichlich. 1.100 Plätze bietet der Konzertsaal bei Volllast, macht also derzeit annähernd 550 Plätze, die vergeben werden dürfen. Das wird an diesem Abend auch ausgenutzt. Vermutlich, weil im Vorfeld ein Abend mit „Öcher Musik“ angekündigt worden ist. Das wirkt offenbar nicht nur bei Volksmusik-, sondern auch bei Klassik-Liebhabern.
Seit 2018 leitet Christopher Ward das Sinfonieorchester Aachen. Seitdem erfreut sich das 80-köpfige Orchester wieder zunehmender Beliebtheit und darf sich allerhand Freiheiten herausnehmen, ohne dass das Publikum davonläuft. Deshalb kann auch das Programm der Gala ungewöhnlich ausfallen. Immerhin sind drei von fünf Werken außerhalb des üblichen Kanons. Da ist an anderer Stelle schon so mancher Konzertsaal leergeblieben. Zu den Entdeckungen Wards gehört der Komponist und überaus erfolgreiche Dirigent Leo Blech, ein gebürtiger Aachener, der von 1871 bis 1958 lebte. Aus seiner komischen Oper Alpenkönig und Menschenfeind erklingt zum Auftakt die absolut hörenswerte Ouvertüre, die sich durchaus mit den Werken Engelbert Humperdincks messen kann, dessen Privatschüler er war.
Foto © Sandra Borchers
Zwei erfreulich kurze Reden – Bürgermeisterin und Orchestervorstand ergreifen das Wort – zeugen von viel Lokalpatriotismus, der dem Publikum gefällt und mit viel Applaus bedacht wird. Das sei dem Publikum gegönnt. Das Sinfonieorchester schenkt sich an diesem Abend tatsächlich nichts. Ist die Blech-Ouvertüre durchaus beherrschbar, geht das Niveau mit Beethovens Fünfter ab nach oben. Wenn man ganz ehrlich ist, hatte Ludwig van Beethoven mit Aachen nicht so wahnsinnig viel zu tun. Ja, er hat hier kurz nach der Wiener Uraufführung seine Neunte aufgeführt. Aus dieser Zeit gibt es noch eine Partitur mit handschriftlichen Anmerkungen des Komponisten, die man eigens aus dem Stadtarchiv ins Eurogress geschafft hat, wo die Besucher es unter Glas bewundern können. Aber das soll es dann auch gewesen sein. Die Aufführung des Konzerts für Klavier und Orchester Nr. 5 Es-Dur opus 73 ist eher eine Reminiszenz an den 250. Geburtstag des Komponisten im vergangenen Jahr und war auch für diesen Zweck einstudiert worden. Also wird es jetzt nachgeholt. Und das Publikum ist begeistert, denn als Pianisten konnte man Joseph Moog gewinnen. Der tritt, wie gewohnt, in schwarzgemustertem Sakko über schwarzem T-Shirt auf, findet wie immer, dass Partituren in den Schrank für Übungsmaterialien, aber auf keinen Fall auf den Flügel gehören und arrangiert sich auf das Feinste mit dem Orchester. Ein Hörgenuss. Und es gibt eine Zugabe. Von Franz Liszt spielt Moog Au bord d’une source – Am Rande einer Quelle. Da ist der Unmut darüber schnell vergessen, dass der Titel nur dahingenuschelt wird. Eine Preziose, die die Besucher gern mit in die Pause nehmen.
Anno Schreier ist in Aachen geboren, in Monschau in der Eifel aufgewachsen und lebt heute in Freiburg im Breisgau. Für die Uraufführung seines Werks Dance Machine kommt er gern zurück in seine „Heimatstadt“, in der er einst immerhin die Noten in der Stadtbibliothek studierte. Ein faszinierendes Werk, in dem der Künstler die Beziehungen zwischen Künstlicher Intelligenz und Mensch umdreht. Da sind beträchtliche Schwierigkeitsgrade für die Orchester-Musiker eingebaut, die an diesem Abend aber allesamt gemeistert werden. Es warten eine Menge Überraschungen auf das Publikum, angefangen von einer unglaublich anspruchsvollen Einleitung hin über die Schlagzeugeinlagen, die von Glissandi der Bläser begleitet werden. Eine Musik, die in jedem Science-Fiction-Film gut aufgehoben wäre. Schreier produziert Assoziationen vom Zombie-Film bis zur Maschinenfabrik, in der die Geräusche menschlicher Existenz Angst bereiten. Großartig, ohne jeden sphärischen Ausflug, aber mit dem Ausgang, dass hier tatsächlich eine große Komposition vorgetragen wird.
Foto © Sandra Borchers
Unter dem Eindruck dieses Werkes fällt die Mozartiana von Peter Iljitsch Tschaikowski tatsächlich als Musik der Vergangenheit ab, auch wenn sie vom Orchester makellos und spannungsreich vorgetragen wird.
Der Abend zieht sich in die Länge. Nach zweieinhalb Stunden steht ein weiteres Werk an. Dass eine Gala mit den Reden, darunter auch noch der Auftritt eines ehemaligen Musikers, der das Orchester über den grünen Klee lobt, die Akustik im Eurogress bemängelt, obwohl es dafür eigentlich keinen Grund gibt, sich in die Länge zieht, ist erwartbar. Nichtsdestotrotz sind zweieinhalb Stunden für Menschen, die anderthalb Jahre zuhause waren, ziemlich anstrengend. Und es ist gut, dass der Walzer, den André Parfenov auf der Grundlage von 16 Takten Tschaikowskis als Aachener Walzer komponiert hat, am Ende eines aufregenden Programms steht. Aachen kann mit diesem Werk mehr als gut leben. Schon der Groove der ersten Takte erinnert an Maestro Bernstein, und das ist als Kompliment zu verstehen. Beschwingt lässt sich das Orchester durch das Stück treiben, während Parfenov die Tücken meisterhaft absolviert. Ein eingängiges, süffiges Werk, das sicher nicht in der Schublade verschwinden wird. Wie auch bei Dance Machine gibt es im Team von Christopher Ward bereits Überlegungen, die Stücke weiter zu verwerten. Bislang sind die Vorstellungen vage, fest steht nur, dass man solche Kompositionen nicht in der Schublade verschwinden lassen will.
Das Sinfonieorchester hat das Feuerwerk gezündet, das vom Publikum erwartet wurde, das nicht aufhören will zu applaudieren. Eine Gala, die ihren Namen verdient hat. Wunderbar.
Michael S. Zerban