Kulturmagazin mit Charakter
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Vor dem Opernhaus demonstrierten Vertreter des allgemeinen französischen Gewerkschaftsbundes CGT. Die Durchführung der Premiere hängt am seidenen Faden. Am Flughafen von Lyon traten Mitarbeiter des Bodenpersonals in den Streik und brachten den Flugplan durcheinander. Obwohl die Premiere reibungslos über die Bühne laufen und auch alle Passagiere mit erträglichen Umbuchungen und Verspätungen an ihr Ziel gelangen: Von sozialem Frieden kann in Frankreich keine Rede sein.
Auch wenn es für die betroffenen Arbeiter und Angestellten um existentielle Fragen geht, tobt auf der Bühne der Opéra National de Lyon ein weitaus schlimmerer Krieg, dem Benjamin Britten eine eindrucksvolle Totenmesse widmete: das 1962 in der wiederaufgebauten, im Zweiten Weltkrieg von Deutschen zerstörten Kathedrale von Coventry uraufgeführte War Requiem.
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Ein Oratorium, das der Pazifist Britten inmitten des „(eis-)kalten Krieges“ als Versöhnungsgeste gegenüber ehemaligen und aktuellen Feinden verstanden wissen wollte. Eine Geste, die in Großbritannien nicht nur auf Gegenliebe gestoßen ist. Schließlich hat sich Britten als Kriegsdienstverweigerer nicht beliebt gemacht, und selbst das Engagement des deutschen Baritons Dietrich Fischer-Dieskau für die Uraufführung führte zu Reaktionen, die zeigten, dass die Ressentiments gegenüber dem deutschen Erzfeind trotz intensiver Bemühungen Adenauers und de Gaulles noch längst nicht bei allen Franzosen überwunden waren.
Gleichwohl unterstreichen die verständlichen Vorbehalte die Bedeutung und die Notwendigkeit eines Werks, dem man das aufrichtige Herzblut des Komponisten anhört und das neben der Lukas-Passion des Polen Krzysztof Pendereckis zu den wichtigsten musikalischen Friedensbotschaften der Nachkriegszeit gehört.
Allerdings ist und bleibt das War Requiem ein Oratorium, und szenische Realisierungen dieser Gattung verleiten leicht zu theatralischen bis plakativen Umsetzungen, die der Konzentration auf den spirituellen Gehalt im Wege stehen können. 2011 tauchte selbst die hochbegabte Regisseurin Elisabeth Stöppler in Gelsenkirchen das Werk in ein aktionistisch überdrehtes und visuell überladenes Schlachtfeld. Der Japaner Yoshi Oida geht da in Lyon dezenter vor. Schließlich hat er als Kind die Schrecken des Zweiten Weltkriegs selbst in seiner von Deutschland weit entfernten Heimat erleben müssen.
Foto © Corentin Fohlen
Allerdings bleibt das War Requiem ein Oratorium. Brittens Collage aus den lateinischen Mess-Texten und den persönlich gefärbten Gedichten des mit 25 Jahren im Ersten Weltkrieg gefallenen Dichters Wilfred Owen fehlt ein konkreter Handlungsstrang. Der christliche Erlösungsmythos mischt sich mit den sensiblen Texten Owens, die den Krieg aus der Perspektive unmittelbarer Opfer und Kriegsgegner auf einer abstrakten Ebene spiegeln. Damit wird das Werk als Vorlage für ein Bühnenwerk problematisch. Yoshi Oida belässt es zwar bei einer Anklage gegen alle Kriege der Welt und stülpt dem Werk keine konstruierte fiktive Handlung wie Elisabeth Stöppler auf. Doch bereits die von Britten minutiös und nicht willkürlich vorgegebene Aufstellung der beteiligten Chöre, Orchester und Solisten lässt sich in einer szenischen Darstellung nicht ohne weiteres realisieren. Schließlich basiert die kompostorische Struktur auf der Wechselbeziehung dreier musikalischer Schichten, die räumlich hintereinander gestaffelt werden müssten. Im Vordergrund sollen die beiden männlichen Solisten und ein mit ihnen verknüpftes Kammerorchester die realistisch angehauchten Gedichte von Owen vortragen. Hinter ihnen sollen sich das große Orchester mit dem Chor und dem Sopran-Solo postieren, die den lateinischen Messtext artikulieren und im Hintergrund sieht Britten noch die Aufstellung eines Kinderchors mit Orgelbegleitung vor, die den Messtext wie aus fernen Höhen reflektieren. Bei Beachtung der Vorgaben würden sich die realistischen, religiösen und visionären Schichten des Werks bereits durch die räumliche Anordnung klar herausstellen lassen.
Ein dramaturgischer Kunstgriff, der in Lyon verlorengeht. Hier agiert das große Orchester im Graben, das Kammerorchester ist auf der linken Bühnenseite aufgestellt, rechts beobachtet der Kinderchor das Geschehen, während die Owen-Gedichte auf einem schlichten Podest in der Mitte visualisiert werden. Der große Chor hält sich im Hintergrund. Der Regisseur sieht darin kein Problem, da ihn die christliche Komponente ohnehin nicht interessiert. Die Absicht, die Allgemeingültigkeit der pazifistischen und gegen alle Kriege der Welt ausgerichteten Botschaft ins Zentrum der Inszenierung zu stellen, führt zu meist banalen Bildern mit bedrohlichen Symbolen, die den großen Chor mit seiner christlichen Botschaft vollends in den Hintergrund rücken.
Was ist zu sehen? Leichen werden auf die Bühne geschoben, die als Soldaten auftretenden männlichen Solisten hantieren mit Symbolen wie Totenköpfen und Nationalflaggen, die dem Nationalstolz, aber auch als Leichentücher dienen. Letztlich wird auch auf dem Podest gestorben. Und zwar so plakativ, dass die entrückten Klänge Brittens im Männer-Duett und in den Schlusschören einen nahezu cineastisch sentimentalen Anstrich erhalten. Gerade die abstrakte, auf das Innere gerichtete Botschaft, die Britten mit großer Ruhe und dezenter Kraft an die Menschheit richten will, verliert ihren spezifischen Ausdrucksgehalt.
Die überhöhende Wirkung des Kinderchors wird ebenfalls vernachlässigt. Die Kinder schauen dem Geschehen staunend am rechten Bühnenrand zu. Die gesungenen Messtexte verlieren ihren Sinn. Und auch die Sopranistin wird in das Geschehen eingebunden und sieht sich zu expressiven Gesten und Tönen gezwungen, die die Stimmung stil- und sinnwidrig verfremden. Bei allem handwerklichem Geschick und trotz der seriösen Ambitionen des Regisseurs führt auch diese szenische Realisierung in eine banalisierende Sackgasse.
Tom Schenks Ausstattung beschränkt sich auf ein schlichtes Spielpodest und eine graue, unruhig gemaserte Rückwand, Kostümbildner Thibault Vancraenebrœck begnügt sich mit militärischen Accessoires und Alltagskleidern. Um das Grauen auch dem letzten Besucher verständlich zu machen, flimmern ab und zu „natürlich“ auch Videosequenzen unterschiedlicher Kriegsschauplätze über die Rückwand.
Schwer zu sagen, wie die musikalische Umsetzung ohne den optischen Firlefanz gewirkt hätte. Man muss dem Lyoner Opernhaus zugutehalten, dass der Chor wie auch der Kinderchor und das Orchester auf höchstem Niveau agieren, so dass sich stellenweise durchaus die Beklemmung einstellt, die Britten mit seinem ehrlichen Bekenntnis auslösen wollte. Der neue Musikchef Daniele Rustioni hat die Fäden des komplexen Werks fest in Händen. Allerdings führt die Einbettung in die optische Wiedergabe in den Solo-Szenen zu aufgesetzten, teilweise hysterischen dramatischen Blähungen, die die Verständlichkeit der englischen Texte erschweren. Ein Fauxpas, hat doch Britten immer größten Wert auf eine sorgfältige Artikulation gelegt und die Szenen nur mit einem kleinen Kammerorchester instrumentiert.
Bei der Auswahl der drei Solisten wurde darauf geachtet, dass sie aus drei Nationen stammen. Die russische Sopranistin Ekaterina Scherbachenko hat am meisten unter der theatralischen Dramatisierung zu leiden und muss ihre Stimme stärker forcieren, als es ihr gut tut. Der amerikanische Tenor Paul Groves und der aus Estland stammende Bariton Lauri Vasar können sich entspannter entfalten, neigen aber zu sentimentalen Anflügen.
Das Publikum reagiert mit großem Beifall, zu dem der rhythmische Applaus angesichts der Thematik nicht so recht passen will. Das Engagement, mit dem die Lyoner Oper ihren großen musikalischen und technischen Apparat für die Produktion einsetzt, verdient Respekt, auch wenn das Ergebnis Vorbehalte gegen szenische Oratorien eher bestärkt als mildert.
Pedro Obiera