O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Michael Zapf

Aktuelle Aufführungen

Ganz am Anfang

Eröffnungskonzert Elbphilharmonie
(NDR-Elbphilharmonie-Orchester)

Besuch am
12. Januar 2017
(Premiere am 11. Januar 2017)

 

Elbphilharmonie Hamburg, Großer Saal

Veränderungen und Brüche im Zeitgeschehen sind oft gekennzeichnet durch ein neues Verständnis der Menschen von Raum und Zeit.

Die Akustik des Großen Saales der Elbphilharmonie eröffnet hinsichtlich Durchsichtigkeit und Klarheit des Klangs außerordentliche, neue Dimensionen. Jedes Instrument, jeder Ton, jeder Spielansatz ist in ungewöhnlich klarer Form zu hören. Spiel- und Hörgewohnheiten, die durch ein automatisch satteres, oder vielleicht in Wahrheit nur undurchsichtigeres Klangbild geprägt und eingeschliffen sind, müssen kritisch neu erarbeitet werden.

Künstler und Zuhörer müssen sich in einem solchen einzigartigen Raum daher über einen Prozess des Lernens auseinandersetzen, ihn erst noch über die Zeit erobern. Ihre eigene Kunst des Spiels und des Hörens weiterführen, ihre Kreativität neu ausrichten. Ihr Verständnis von Musik wird sich womöglich wandeln.

Jeder Mensch muss das immer wieder in vielen Lebensbereichen tun. Und überall ist das heute – wenn auch oft unter Mühen und Widerständen – akzeptiert. In der klassischen Musik ist das noch immer so eine Sache. Aber darin liegt auch die Einzigartigkeit und Chance des Hauses, nämlich sich durch Musik neu irritieren zu lassen, sie neu zu spielen, sie sich neu zu erarbeiten und als ausübender Künstler und Zuhörer neu zu erfahren.

POINTS OF HONOR

Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Wie schlicht und simpel sollte denn ein neuer Raum für fast 900 Millionen Euro sein, in den man sich nur reinsetzt und weiterspielt wie immer, nur irgendwie „schöner“?

Eine besondere Chance haben daher alle regelmäßig im Hause spielenden Orchester, die die Klangmöglichkeiten der 360-Grad-Architektur des Großen Saales durch immer wieder andere, nicht nur traditionelle Orchesteraufstellungen, sukzessive ausloten und optimieren werden. Thomas Hengelbrock spricht denn auch von einer ersten behutsamen Erkundung des Raumes. Auch Protagonisten und Ensembles, deren Programm gewissermaßen die Erprobung alternativer Klangkonzepte durch ungewöhnliche Werke und Aufführungsorte ist, dürften in der Elbphilharmonie bestens aufgehoben sein.

Für Musikwerke aller Epochen ist ein neuer Hör- und Erfahrungshorizont, für große und größte Orchesterbesetzungen ein ganz neues Podium entstanden.

Im Eröffnungskonzert ist das sowohl im Hinblick auf eine anspruchsvolle Programmwahl und wiederholte alternative räumliche Klang- und Raumnutzung dem NDR-Elbphilharmonie-Orchester im ersten Schritt eindrucksvoll gelungen.

Im ersten Teil des Konzerts kommen in nicht-chronologischer Folge allein acht Werke zur Aufführung, darunter vom Countertenor Philippe Jaroussky, von Margret Köll auf der Harfe begleitet, Dalle più alte sfere von Emilio de’ Cavalieri und Antonio Archilei aus dem Jahre 1589 und Amarilli mia bella von Giulio Caccini aus dem Jahr 1601. Der Sänger und die Instrumentalistin sind weit oben im Weinberg – wie der Stil der steil ansteigenden Ränge im Großen Saal bezeichnet wird – positioniert. Stimme und Harfenklang stehen überirdisch im Raum.

Alle musikalischen Werke des Abends werden trotz ihrer Entstehung über mehr als vier Jahrhunderte attacca, also jeweils ohne Pause aufgeführt. Das vermeidet störende Unterbrechungen durch Applaus und anderen Spannungsabfall. Zugleich erstaunt das problem- und übergangslose Hineingleiten in Klang und Musik aus verschiedenen Jahrhunderten.

Die ersten Töne des Programms gibt Kalev Kuljus, erster Oboist des Orchesters, weit oben im Rang stehend, mit Benjamin Brittens Pan aus Sechs Metamorphosen nach Ovid.

Das Ensemble Praetorius präsentiert – ebenfalls im Weinberg positioniert – Quam Pulchra Es – aus dem Jahr 1606 von Jacob Praetorius und die großen und größten Orchesterbesetzungen vor der Pause entfalten sich in Henri Dutilleuxs Mystere de L’Instant, Bernd Alois Zimmermanns Photoptosis/Prelude für großes Orchester, Rolf Liebermanns Furioso – eine Hommage an den wichtigen, lange Jahre in Hamburg wirkenden Künstler und Opernintendanten – sowie dem zehnten Satz: Finale aus Olivier Messiaens Turangalila-Sinfonie.

Foto © Michael Zapf

Der zweite Teil des aufwändigen Abends umrahmt mit Wagners Vorspiel zu Parsifal und dem vierten Satz aus Beethovens Sinfonie Nr. 9 die Uraufführung des Auftragswerkes des NDR von Wolfgang Rihm Reminiszenz – Tryptychon und Spruch in Memoriam Hans Henny Jahnn. Rihm verwendet im eigens für die Eröffnung des Hauses komponierten Werk für Tenor und großes Orchester zum einen die Worte des Hamburger Künstlers und Literaten Jahnn Reminiszenz aus: Fluss ohne Ufer sowie weitere Texte von Peter Huchel und Walter Muschg. Pavol Breslik gestaltet den Vortrag mit von großer Ruhe getragenem Ausdruck, klarer Stimm- und Sprachgestaltung. Im zweiten Satz kommt auch die Orgel des Saales zum Einsatz, gespielt von Iveta Apkalna. Es entsteht die Atmosphäre einer entrückten Erinnerung an die selbst in Hamburg kaum mehr gekannte Künstlerpersönlichkeit von Hans Henny Jahnn.

Im Schluss-Satz Beethovens neunter Symphonie gehen die Chöre des NDR unter Leitung von Philipp Ahmann und des Bayerischen Rundfunks unter Howard Arman zusammen mit den Solisten Hanna-Elisabeth Müller, Wiebke Lehmkuhl, Pavol Breslik und Bryn Terfel noch einmal „in die Vollen“. Eindrucksvoll erschallt die Ode an die Freude.

Insgesamt haben alle Beteiligten und insbesondere das NDR-Elbphilharmonie-Orchester unter Thomas Hengelbrock sich mit großer Demut dem neuen Raum genähert und eine außerordentliche Leistung in dem noch neuen Umfeld geleistet.

Das Publikum folgt dem Ereignis bis auf wenige Abgänge in der Pause mit großer Spannung und bedankt sich bei allen Beteiligten mit vielen Bravorufen und einer stehenden Ovation – eine für Hamburg nachgerade unanständig emotionale Gefühlsäußerung. Überhaupt sind die Besucher außerordentlich bunt gemischt. Blankeneser schwarze Hosenanzüge mit obligaten Perlen wechseln mit großer Robe, die ansonsten bei kulturellen Veranstaltungen in der Stadt eher gemieden wird. Es sind viele auswärtige Gäste im Saal – unter anderem wird russisch gesprochen. Ein großer Teil der Karten für das Eröffnungskonzert soll verlost worden sein – das Los fiel wohl überwiegend auf den erfahrenen Besucher kultureller Veranstaltungen – der Eindruck eines Querschnitts der Bevölkerung will nicht recht aufkommen.

Der Bau wird mit einer Kathedrale, öfter mit einem Schiff verglichen. Es könnte in seiner Neuartigkeit, kühnen Architektur und Gestaltung ohne alle Hamburgensien und Buddelschiffe auch ein UFO sein. Bleibt also zu hoffen, dass das UFO durch den gemeinsamen Willen und die gemeinsame Hinwendung von Künstlern und Publikum zur Musik dauerhaft ein lebendiger Ort Hamburgs und Deutschlands wird. Dann kann hier ein neues Verständnis von Raum und Zeit entstehen. Der Anfang ist gemacht.

Achim Dombrowski