O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Bernd Uhlig

Aktuelle Aufführungen

Die fahlen Schatten des Ur-Boris

BORIS GODUNOW
(Modest Mussorgsky)

Besuch am
17. Juni 2017
(Premiere)

 

Deutsche Oper Berlin

Boris Godunow ist eine derjenigen Opern, die durch ihre Aufführungsgeschichte und die Faszination, die das Werk auf andere russische Komponisten ausübte, in einer Vielzahl von verschiedenen Fassungen existiert. Der Komponist selbst hat zwei Versionen geschaffen und Schostakowitsch und Rimski-Korsakow haben jeweils berühmte Bearbeitungen vorgelegt.  Insbesondere die Fassung von Rimski-Korsakow hat dem Werk zum Durchbruch verholfen, obwohl sie heute oft als eine zu gefällige und musikalisch glättende Bearbeitung betrachtet wird.

In der Koproduktion mit der Covent Garden Opera, London – wo die Premiere bereits 2016 herausgekommen ist – hat nun die Deutsche Oper Berlin in der Regie von Richard Jones den so genannten Ur-Boris von 1869 präsentiert, das heißt die ursprüngliche und erste Version vom Komponisten, die allerdings erst 1874 in Sankt Petersburg zur Uraufführung gelangte. Jones inszeniert damit zum ersten Mal an der Deutschen Oper.

POINTS OF HONOR

Musik     
Gesang     
Regie     
Bühne     
Publikum     
Chat-Faktor     

Mit seinem Team – Miriam Buether für die Bühne, Nicky Gillibrand für die Kostüme und Mimi Jordan Sherin für das Licht – gelingt Jones eine Umsetzung, die die historischen Hintergründe und Zusammenhänge klar und deutlich herausarbeitet. Jones greift den Charakter der szenenhaften Dramaturgie der ursprünglichen literarischen Vorlage von Puschkin auf und verbindet die einzelnen Szenen in der nur gut zweistündigen, pausenlos gespielten Aufführung jeweils übergangslos und mit zügigem Bühnenumbau miteinander.

Dabei wird mit außerordentlich bildhaften Elementen gearbeitet. Jeweils, wenn sich Boris an den ihm nachgesagten Mord des Thronfolgers Dimitrij erinnert, die Leitmotive dazu im Orchester erklingen, oder bei Pimens Erzählung wird der Mord an dem mit einem Kreisel spielenden Kind etwa sechs Mal während des Abends szenisch auf einer oberen Ebene der geteilten Bühne mit drei schwarz gekleideten Mördern „abgespult“ wie ein zwanghafter Traum.

Die Handlung wird damit über eine klassisch-solide Erzähl- und Bebilderungskonzeption konkret und nachvollziehbar – aber auch etwas eingeengt und eindimensional – auf die Bühne gebracht. Komplexere psychologische und abstrakte Angst- und Wahnvorstellungen des Machthabers Boris wie sie in anderen zeitgemäßen Umsetzungen auf der Bühne zu sehen waren, die auf der quälenden Unklarheit über die wirklichen historischen Ereignisse sowie die labile Machtposition des Zaren und die schwierige Beziehung zu und mit seinem Volk basieren, finden bei Jones nicht statt. In dieser Produktion geht alles auf den Mord des rechtmäßigen Zaren-Nachfolgers zurück und ist auch auf diesen Bezug eingeschränkt.

Dabei sind Präzision und Handwerklichkeit sowie die hohe Intensität der Personenführung zu bewundern. Das trifft vor allem für die Hauptrollen zu. Insbesondere die Begegnung der Antipoden, nämlich des Mönches Pimen mit dem Zaren Boris, gelingt an der Schnittstelle der Handlung überzeugend und spannend.

Foto © Bernd Uhlig

Maßgeblich dabei sind der großartige stimmliche und darstellerische Einsatz von Ain Anger als Boris, der sein Rollendebüt an der Deutschen Oper gibt, sowie die rundum grandiose Leistung des Ensemblemitglieds Ante Jerkunicas, der den Mönch Pimen mit bezwingender Ruhe und Intensität darbietet. Die farbliche Vielfalt seines ausdrucksstarken Basses vermag alle Schattierungen der Partie grandios und mit der Ruhe eines greisen Gelehrten, der auf sein Leben und seine Erfahrungen zurückschaut, auszuleuchten.

Sein Schüler Grigorij wird von Robert Watson mit kompaktem und geschickt geführtem Tenor auch darstellerisch überzeugend gegeben. Weitere gute Leistungen sind mit Burkhard Ulrich als intrigantem Fürst Schuiskij und Matthew Newlin als Gottesnarr zu erleben.

Phillip Ammer als Solist des Knabenchores der Chorakademie Dortmund singt und spielt den minderjährigen Sohn von Boris trotz seines jugendlichen Alters bereits überzeugend und anrührend. Alexandra Hutton verkörpert die um ihren Geliebten trauernde Schwester Fjodors mit etwas eindimensionaler Stimmführung.

Die Deutsche Oper bringt an diesem Abend ein großes Aufgebot an weiteren Darstellern auf die Bühne: Raymond Hughes verantwortet den Chor und die Herren des Extra-Chores der Deutschen Oper Berlin; Christian Lindhorst zeichnet für den Kinderchor der Deutschen Oper verantwortlich. Abgerundet wird das Geschehen durch die umfangreiche und personenstarke Statisterie des Hauses. Im Gegensatz zur intensiven Personenführung der Hauptpartien werden die Chöre oft recht schematisch bewegt, können allerdings gesanglich mit ihren umfangreichen Partien durchweg überzeugen.

Ein weiteres Debüt gibt an diesem Abend auch der Ukrainer Kirill Karabits, Chef der Orchester in Weimar und Bournemouth, mit seiner sehr stark auf die vielfach dunkel-gestaffelten und oft introvertierten und fahlen Schattierungen der Orchesterstimmen konzentrierten Interpretation. Holz- und Blechbläser sind in besonderer Weise bei dieser sehr eigenständigen klanglichen Arbeit gefordert. Die durchweg eher langsamen Tempi stellen Sänger und Orchestermusiker den gesamten Abend über vor besondere Anforderungen.

Großer Jubel des Publikums im trotz besten Sommerwetters vollen Hauses für die Solisten des Abends, allen voran Ain Anger und Ante Jerkunica sowie die Leistungen der Chöre. Die musikalische Leitung von Karabits kann nicht jeden überzeugen, was sich in einzelnen Buhrufen äußert. Das Regieteam zeigt sich bei dieser Premiere nicht. Das Programmheft weist Elaine Kidd für die szenische Einstudierung aus. Bei einer echten Koproduktion sollten nicht nur beide Partner das Geld geben, sondern müssten sicherlich auch den persönlichen Einsatz des Leitungsteams erhalten – sollte man jedenfalls meinen.

Achim Dombrowski