O-Ton

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Foto © Matthias Jung

Aktuelle Aufführungen

Was lange währt, wird endlich gut

IL BARBIERE DI SIVIGLIA
(Gioachino Rossini)

Besuch am
29. November 2025
(Premiere)

 

Wuppertaler Bühnen, Opernhaus

Vor rund zwei Jahrhunderten erstmals in Rom präsentiert, hat Rossinis Oper ihren festen Platz im Herzen vieler Musikliebhaber bis heute keineswegs verloren. Zahlreiche Bühnen weltweit führen das Werk weiterhin im Programm. Nur wenigen ist allerdings bewusst, dass die turbulente Geschichte um einen geschäftstüchtigen Haarkünstler, der einer jungen Frau den Kopf verdreht, eigentlich aus dem ersten Teil einer französischen Figaro-Trilogie stammt – und dass Mozarts Figaros Hochzeit auf dem zweiten Abschnitt derselben literarischen Vorlage beruht.

Die Kavatine des Titelhelden aus Gioachino Rossinis Der Barbier von Sevilla zählt zu den berühmtesten Gesangsnummern überhaupt. Hier tritt ein Mann auf die Bühne, der vor Selbstvertrauen nur so sprüht: redegewandt, charmant, attraktiv und erfolgreich – jemand, der sich in jeder Lage glänzend zu präsentieren weiß. Figaro bietet jedoch weit mehr an als Rasur und Frisur. Er bezeichnet sich selbst als „Faktotum der Stadt“, als eine Art Allrounder, der für nahezu jede Aufgabe gerufen werden kann – vorausgesetzt, die Entlohnung stimmt. Trotz seines hektischen Alltags zögert er nicht, einem jungen Mann auszuhelfen, der beim Werben um eine schöne junge Frau Unterstützung sucht. Figaro kennt die Umstände genau: Die begehrte Dame steht unter der strengen Aufsicht eines älteren, missmutigen Gelehrten, der sie selbst heiraten möchte und dabei auch vor Druck nicht zurückschreckt. Doch wie so oft setzt sich die Jugend durch: Der vermeintliche Student entpuppt sich als junger Graf, und der eifersüchtige Vormund bleibt schließlich bloßgestellt zurück.

Der Barbier gilt bis heute als Oper der Rekorde: Als erstes Werk überhaupt hat es seit seiner Uraufführung am 20. Februar 1816 ohne Pause die Spielpläne überlebt und ist gespickt mit Melodien, die längst zu wahren Hits geworden sind – geschaffen von einem Komponisten, der damals gerade einmal 23 Jahre alt war und das Stück in weniger als zwei Wochen fertigstellte.

Auch wenn die enorme Produktivität bis heute verblüfft, liegt darin eine Mischung aus Genie und Pragmatismus. Denn Rossini komponierte nicht alles komplett neu. So stammt die Ouvertüre bereits aus einem früheren, weniger erfolgreichen Werk. Rückschläge dienten ihm oft als Rohstoff für neue Ideen – und Niederlagen konnten den jungen Rossini kaum beeindrucken.

Im Wuppertaler Opernhaus gilt es nun auch, das Premierenpublikum zu beeindrucken, dass bis Ende November auf den Spielzeitauftakt warten musste. Entsprechend hoch sind die Erwartungen an die Neuproduktion, hatte man sich seit September doch mit einer Reihe von Wiederaufnahmen begnügen müssen. Die Inszenierung von Marie Robert zeigt den Dauerbrenner der Operngeschichte als eine Komödie choreografierter Kunst und schließt damit auch ein wenig an die Tradition des Tanztheaters dieser Bühne an. In der sehr dynamischen Inszenierung, angefangen von der komplexen Bühnendekoration bis hin zu kleinsten Gesten der Protagonisten bleibt nichts dem Zufall überlassen. Jedes Detail scheint liebevoll durchdacht, und jedes Geräusch, jede Farbe, jede Bewegung hat für den Regieansatz eine Bedeutung. Die Personenregie ist äußerst individuell und intensiv. Die einzelnen Persönlichkeiten werden charakteristisch herausgearbeitet bis hin zu überzeichneten Manierismen. Das Bühnenbild von Maira Bieler ist einer komplexen andalusischen Stadtsilhouette im surrealistischen Stil eines Giorgio de Chirico nachempfunden. Was zu Beginn aussieht wie gleichförmige Elemente aus einem Baukasten, formt sich im Laufe der Vorstellung immer wieder zu neuen Spielräumen mit verschiedenen Ebenen und viel Tiefe. Die dadurch entstehenden Spielflächen: Balkone, Treppen, Zimmer sind in der Lage ganz besondere Illusionsräume zu schaffen, die die Handlung immer wieder neu beflügeln. Während zum Auftakt die Bühnenelemente fad und farblos erscheinen, füllt sich die abstrahierte Stadtlandschaft im Verlauf des Abends immer mehr mit Farbe.

Zur Ouvertüre, die man in Wuppertal nutzt, die einzelnen Charaktere der Handlung vorzustellen, ist es nur ein samtblauer Vorhang, der die Bühne rahmt und ziert. Im Verlauf der zweieinhalbstündigen Aufführung gewinnt die Inszenierung an Dynamik, Komplexität und Farbigkeit. Farbe wird hier zum Synonym für Leben. Vor den Augen des Publikums vollzieht sich ein optischer Sinneswandel von routinierter Tristesse hin zu glühender Leidenschaft. Fulminant das konzertierte Auf- und Ab von Hubbühne und Theaterprospekten passend zum Verwirrspiel der teils furiosen Handlungsverläufe. Das insgesamt großartige Bühnenkonzept findet eine nur bedingte Entsprechung in den Kostümen von Petra Korink im Stil der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die zu Beginn eher unglücklich und wenig gefällig erscheinen, im weiteren Verlauf aber mehr Ausformung und Ausdruck erlangen. Deren anfängliche Beliebigkeit wandelt sich zwar ebenfalls mit fortschreitendem Handlungsverlauf, erreicht aber nie die Qualität des sich zunehmend verdichtenden Bühnenbilds. Aus dem Reigen der Kostüme ragen eigentlich nur das bemerkenswert vielschichtige Kleid der Rosina und der ganz besonders bühnenwirksame Mantel des Bartolo heraus. Die Kostümierung des Herrenchores vom mediterranen Stereotyp mit bunten Kopftüchern hin zu blaukostümierten Supermännern mit Waschbrettbauch bleibt eine optische Petitesse. Die Kostüme des Figaro, des Basilio und der Berta lassen sich bedauerlicherweise überhaupt nicht in ein Gesamtkonzept einordnen.

Abgesehen vom Mantel des Bartolo, der dessen Persönlichkeit ganz wunderbar in Szene setzt und dem facettenreichen Kleid der Rosina, bleibt es das hochkomplexe Bühnenbild, das die Handlung vorantreibt und glaubhaft einbettet. Vor diesem überzeugenden Hintergrund ist es letztlich die umsichtige Personenführung der Regisseurin, angelehnt an die Überzeichnung der Darsteller im Film Mein Onkel des französischen Regisseurs Jacques Tati, die den szenischen Erfolg der Neuinszenierung ausmacht.

Auch die musikalische Seite der Produktion nimmt für sich ein. Mit Zachary Wilson hat man einen Figaro, der stimmlich zu überzeugen und darstellerisch bestens zu unterhalten vermag. Sein feintimbrierter Bariton, mit vielen Schattierungen und Zwischentönen, wird der komplexen Rolle gerecht. Die berühmte Kavatine gestaltet er bravourös. Schon als Don Giovanni in der vorhergehenden Spielzeit hat Wilson großen Eindruck hinterlassen. Ganz hervorragend auch Edith Grossmann als Rosina, bis in die Koloraturen makellos gesungen und hinreißend gespielt. Oliver Weidinger als alter Dr. Bartolo entpuppt sich erneut als überragender Charakterdarsteller, der auch stimmlich uneingeschränkt überzeugen kann. Als Gast gibt Charles Sy den Grafen Almaviva mit flexibler Tenorstimme geradezu perfekt. Eine abgerundete Mischung aus lyrischen Passagen und sicherer Höhe. Als leicht indisponiert angekündigt, übertrifft er dennoch die Erwartungen. Sein Rollendebüt absolvierte er bereits 2023 an der Staatsoper Stuttgart, wo er im Frühjahr 2026 in gleicher Rolle erneut zu hören sein wird. Xia Wang ist als Berta koloratursicher und klangschön, ein wenig verhalten im schauspielerischen Ausdruck. Agostino Subacchi gibt den Basilio mit wohlmoduliertem Bass ausdrucksstark und großer Spielfreude. David Jerusalem und Javier Horacio Zapata Vera runden das Sängerensemble ab.

Der Herrenchor der Wuppertaler Oper ist klein, aber fein, und so meistern die elf Sänger die ikonischen Chorszenen erstaunlich souverän.

Unter der musikalischen Gesamtleitung von Yorgos Ziavras zeigt sich das Wuppertaler Sinfonieorchester recht gut aufgestellt. Mit gemäßigtem Tempo und größtmöglicher Transparenz erfährt die Partitur Rossinis im gut gefüllten Wuppertaler Opernhaus eine beeindruckende Umsetzung.

Der dankbare, langanhaltende Applaus schließt alle Beteiligten mit ein. Ganz besondere Zustimmung erfahren Zachary Wilson, Edith Grossman, Oliver Weidinger und Charles Sy. Angesichts der komplexen Gesamtleistung der Produktion hat sich das lange Warten auf den Spielzeitauftakt 25/26 gelohnt.

Bernd Lausberg