O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © O-Ton

Aktuelle Aufführungen

Europa von seiner schönsten Seite

LUSORIENTAL – SOUNDS FROM LISBON
(Diverse Komponisten)

Besuch am
27. August 2022
(Einmalige Aufführung)

 

Niederrhein-Musikfestival, Schloss Dyck, Innenhof, Jüchen

Eigentlich ist es vollkommen unverständlich, warum nicht die ganze Welt sich am Sonntagnachmittag in Konzertsäle oder ausgefallene Spielstätten, die zu Konzertsälen gemacht werden, zurückzieht. Es gibt wohl kaum eine Beschäftigung, mit der man sich besser auf die kommende Arbeitswoche vorbereiten kann, als sich bei musikalischen Klängen in ungewöhnlicher Umgebung zu entspannen.

Vom 17. Juni bis zum 22. Oktober findet das Niederrhein-Musikfestival statt, das 2005 von der Künstlerischen Leiterin Anette Maiburg ins Leben gerufen wurde. Neben anderen Spielstätten stehen Konzerte im Innenhof von Schloss Dyck in Jüchen im Mittelpunkt. „Ich hole mir die Welt an den Niederrhein“ ist das Motto Maiburgs, das die Menschen weit über die Region hinaus seit Jahren anzieht. Viel Südamerikanisches war da in den vergangenen Jahren zu hören, aber das schließt nicht aus, dass Maiburg auch Ensembles aus europäischen Musiklandschaften einlädt, wenn sie ihr geeignet erscheinen, das Publikum vom Niederrhein und über die Grenzen der Region hinaus zu begeistern.

Foto © O-Ton

Das Wetter ist an diesem Sonntagnachmittag wie hingemalt. Blauer Himmel, die Sonne stürzt förmlich in den Innenhof von Schloss Dyck – der Hinweis des Festivalteams, sich mit einer Kopfbedeckung zu schützen, sorgt dafür, dass es hier auch einiges an Sommerhutmode im Publikum zu gucken gibt – und ein paar malerische Wolken sind an den Himmel gekleckst. Vor der Bühne sind die weißen Stuhlreihen schon früh fast vollständig besetzt. Im Hintergrund wird fleißig Wasser ausgeschenkt, um eventuellem Flüssigkeitsmangel vorzubeugen. Vorbildlich.

Eingeladen ist an diesem Sonntag das Ensemble Faya aus Lissabon, das damit den letzten Tag einer Deutschland-Tournee absolviert, die es unter anderem in die Elbphilharmonie in Hamburg führte. Faya, so heißt eine mystische Figur, eine Waldelfe oder eine Hexe, je nach Legende, in Ligurien. Die Naturverbundenheit und der weibliche Klang des Namens gefiel dem Gründungstrio und so entschied es sich dafür. Schon beim Betreten der Bühne versprühen die drei Musikerinnen ansteckende gute Laune. Dabei haben sie gerade Entscheidungen hinter sich, die sicher nicht einfach waren. Gründungsmitglied Chiara Pellegrini entschied noch vor der Tournee, das Ensemble zu verlassen, um in die italienische Heimat zurückzukehren. Da stehen natürlich sofort grundsätzliche Fragen im Raum. Soll sich das Ensemble auflösen? Elena La Conte und Kristina van de Sand fanden glücklicherweise eine andere Lösung in Gestalt von Mili Vizcaíno aus Spanien, die nun mit auf der Bühne im Innenhof von Schloss Dyck sitzt.

Alle drei leben – zumindest überwiegend – in Lissabon. „Dieser kulturelle Schmelztiegel, in dem sich Völker, Sprachen und Traditionen in immer neuen Kombinationen begegnen, ist ein Ort der Sehnsucht und der Inspiration für Faya – drei musikalische Reisende, die hier gestrandet sind und sich von der vibrierenden Musikszene der Stadt mitreißen lassen“, ist auf dem Programmzettel zu lesen. Von der Musik, die für Portugal steht, dem Fado, jenem Blues des Südens, halten sie sich allerdings fern. Aus Respekt vor den Einheimischen, sagt van de Sand. Dafür liefern sie an diesem Nachmittag ein musikalisches Programm unter dem Titel Lusoriental – was man am ehesten vielleicht mit Licht des Orients übersetzen kann – das an Vielfalt kaum zu überbieten ist. Daglar Gibi, wie Berge, heißt das türkische Volkslied, mit dem die drei den Reigen eröffnen. Elena La Conte spielt nicht nur die Querflöte und singt, sondern komponiert auch. Mit Walter Areia hat sie das Lied Navigare gesetzt. Auch Mili Vizcaíno, die zu diesem Nachmittag mit Gesang, Gitarre und Cajon beiträgt, schreibt ihre eigenen Lieder. Desde un son, aus einem Geräusch, eröffnet die Reihe ihrer Lieder, die Bestandteil des Programms sind. Das folgende Stück stammt von Leda Velladares und Silvia Eisenstein, mit dem León Gieco als Interpret bekannt geworden ist: Canto en la rama heißt ich singe auf dem Ast.

Foto © O-Ton

Wenn die Titel eine gewisse Naturverbundenheit aufweisen, kommt das nicht von ungefähr. Seit neuestem befasst sich das Trio mit Musikökologie. Das ist eine neue Strömung in den Musikwissenschaften, die sich mit der Frage beschäftigt, wie Musik eine Verbindung zwischen den Menschen und der Natur herstellen kann. Glücklicherweise bleiben theoretische Überlegungen aber außerhalb des Schlossinnenhofs, und so lernt das Publikum Vizcaínos zweite Leidenschaft kennen. In dem Lied Imli – eine Verballhornung ihres Vornamens, mit der sie die Einheimischen während ihres Indien-Aufenthalts riefen – kommen auch die indischen Einflüsse zur Geltung.

Eigentlich ist es an Kristina van de Sand, die deutsche Moderation zu übernehmen, wenn sie nicht singt oder die Geige virtuos behandelt. Schließlich stammt sie gebürtig aus Mönchengladbach. Bei der Ankündigung der Tarantella del Gargano, einem italienischen Volkslied, überrascht allerdings La Conte mit tadellosen Deutschkenntnissen. Gutgelaunt geht es weiter zu Pirilampos y luciernagas, einer Ballade über Leuchtkäfer und Glühwürmchen, die Rui Filipe und Vizcaíno geschrieben haben. Bei den darauffolgenden Titeln wird die Stimmung im Schlosshof noch ausgelassener, geht es doch unter anderem nach Brasilien und die Zuschauer lassen sich gern darauf ein, Texte mitzusingen und zu -klatschen, auch wenn sie reine Lautmalerei betreiben und kein Wort verstehen.

Zum Schluss erzählt La Conte die Geschichte von Caterina, dem kleinen Mädchen aus dem Piemont. Wie alle Kinder muss sie mit den Eltern aufs Feld, um in der Landwirtschaft zu helfen. Aber Caterina hat einen Traum, der sich zwischen Reisfeldern und Weinbergen kaum verwirklichen lässt. Sie möchte Schneiderin werden. Gegen alle Widerstände hat sie sich durchgesetzt und den Beruf erlernt, den sie so liebte. Heute ist sie 96 Jahre alt, und ihre Enkelin Elena hat das Lied Caterina sogna, Caterina träumt, über sie geschrieben. Wenn das kein herzergreifender Abschied ist. Wunderbar! Ganz entspannt im Hier und Jetzt geht ein großartiger Nachmittag zu Ende, nachdem sich das Publikum lange und ausgiebig bedankt hat. Einmal mehr hat sich Europa von seiner schönsten Seite gezeigt. Gäbe es doch nur mehr solcher Gelegenheiten.

Michael S. Zerban