O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Nana Franck

Aktuelle Aufführungen

Schwerstarbeit im Bahndepot

ENDSTATION FERN VON HIER
(Pièrre.Vers-Kollektiv)

Besuch am
22. Juni 2022
(Uraufführung)

 

Asphalt-Festival, Betriebshof Steinberg, Düsseldorf

Das stärkste Bild seiner Inszenierung findet Christof Seeger-Zurmühlen für den Schluss. Ein Moment, in dem sichtbar wird, was das Theaterkollektiv Pièrre.Vers getrieben, was es angetrieben hat zu Endstation fern von hier, dem vierten und letzten Teil seiner umfänglichen, theatralen Vergegen­wärtigung der NS-Zeit in Düsseldorf. Alles schießt zusammen in ein Bild ohne Worte. In einen Moment von Zuschauer-Erkenntnis, Zuschauer-Selbsterkenntnis: Wir sind die schweigende Mehrheit. Diejenigen, die zugeschaut haben, die profitiert haben. Damals. Im Krieg. Als Düsseldorf, die Gauhauptstadt, „Anwerbebezirk“ ist für Zwangsarbeiter aus der Ukraine – ausgerechnet aus der Ukraine.

Und die stehen uns jetzt gegenüber. Hier, Am Steinberg, auf dem historischen Betriebshof der Düsseldorfer Rheinbahn. Eine Mauer aus Grau in Grau, der Nichtfarbe für Nicht-Menschen, die sie gewesen sind. Dann setzt sich die Mauer in Bewegung, weicht zurück, macht im Krebsgang einen Bogen nach rechts, wird kleiner und kleiner, bis wir sie nicht mehr sehen. Bis sie nicht mehr da ist, die Mauer. Aus den Augen, aus dem Sinn. Eben das ist der Punkt, der Null-Punkt, an dem Pièrre.Vers ansetzt, wo es den dramaturgischen Zirkel aufsetzt. Juliane Hendes, die Autorin dieses dokumenta­rischen Theaterstücks, spricht von den „blinden Flecken der Erinnerungskultur“. Das Programmheft breitet dazu Zahlen aus, die schwindlig machen. Von 20 Millionen ist die Rede. Und sofort ist die Frage da: Wie kann das sein, dass 20 Millionen Menschen unserem Bewusstsein abhandengekommen sind? Einfach so. Und überhaupt, wie jetzt weiter? Wie kann daraus ein Stück werden, also ein Stück Erinnern, das nachholt, was ausgefallen, was verdrängt ist?

Foto © Nana Franck

Was Regie und Dramaturgie von Endstation fern von hier an dieser Stelle machen, ist zunächst nichts anderes, als was die jüngere Vergegenwärtigung der NS-Verbrechen vorgemacht hat und wie sie seit Claude Lanzmann und dessen filmischem Monument Shoah geradezu kanonisch geworden ist: Kein Erinnern, kein Vergegenwärtigen, so die Forderung, ohne den Opfern Name, Gesicht, Stimme zu geben, zurückzugeben. Aller­dings, anders als bei Lanzmann, der sich eisern ans Dokumentarische hält, der nichts kennt außer dem, was ihm die Überlebenden in seine Kamera sagen, kommt bei Pièrre.Vers notwendig Fiktionales ins Spiel. Freilich auf eine Weise, die uns berührt, die uns in keinem Moment an der Wahrheit dieses theatralen Neunzig-Minuten-Reenactments, also dem Nachstellen historischer Ereignisse, zweifeln lässt.

Zumal wir Valentina K., 1942 im Alter von 17 Jahren aus Kiew nach Nazi-Deutschland verschleppt, auch zuerst hören. Im historischen Sonderzug der Rheinbahn rumpeln wir vom Worringer Platz via Hauptbahnhof Richtung Steinberg und bekommen über Kopfhörer, eine schon fixe Größe jeder Pièrre.Vers-Dramaturgie, ein Zuspiel aufs Ohr. Valentina K. meldet sich, stellt sich und ihre Geschichte vor. Leise. Eindringlich. Immer dann, wenn im weiteren Stückverlauf dieser gefasste Flüster- und Hörspielton durchdringt, wenn er sich mischt, wenn er unterbrochen wird von den sparsam-echohaften Klängen von Bojan Vuletić, entfaltet die theatrale Stückvermittlung ihre intensivste Wirkung. Wer bei sich ist, kann es auch für andere sein.

Foto © Nana Franck

Im Depot angekommen, tritt mit Julia Dillmann zur Stimme ein Gesicht, eine Person. Immer wieder wird sie aus dem Gewusel von Mitgefangenen, der Crowd, wie es im Pièrre.Vers-Sprachgebrauch heißt, heraustreten, wird berichten von all den großen und kleinen Ungeheuerlichkeiten dieser jahrzehntelang beschwiegenen, verdrängten Zeit. Dillmann lässt ihre Valentina pendeln zwischen einer Zeugin der Klage und einer der Anklage. Bei ihr wie auch bei ihren drei, immer wieder die Rollen wie die Seiten tauschenden Mitdarstellern Anna Magdalena Beetz, Paul Jumin Hoffmann, Alexander Steindorf führt das zu Ausbrüchen. Klar. Jede einzelne Station in diesem Parcours aus Zwang und Arbeit hat ihre eigene Härte. Im Übrigen sind auch die Temperaturen unbarmherzig, schweißtreibend.

So war das, so muss das auch jetzt sein, scheint die Regie sagen zu wollen und führt zur nächsten Schwerstarbeit. Wie die Giganten auf dem Parthenon-Fries müssen sich Crowd und Darsteller gegen die Waggonwände stemmen. Schwerstarbeit für alle Beteiligten. Dann wird es laut, wird fuchtelnd, wird herrisch. Insbesondere Letzteres ist uns in unserer postheroischen Lebenswelt so gründlich verlorengegangen, dass es auch den Schauspielern nicht gerade leichtfällt, überzeugend Herr und Knecht zu mimen. Eine gewisse Unkonzentriertheit der Dramaturgie spielt auch hinein. So klar es ja ist, was dieser theatralen Vergegenwärtigungs-Dramaturgie, was diesem Konzept von „Historification“ vorschwebt, letztlich ist so viel hineingepackt, dass sich die Fäden kreuzen, mischen, überlagern. Dicht und voll ist das alles. Da sind die plakativ ausgestellten Zwangs- respektive Schwerstarbeiten, da ist eine Liebesgeschichte zwischen Täter und Opfer, da sind die, im Prinzip sehr richtig als rudimentär überführten Zeugenaussagen nach der Befreiung und schließlich will man auch nicht verzichten auf die verstockt-hilflosen Rechtfertigungsversuche der Täter. Ein grauslich zum „Führergruß“ gereckter Arm erinnert uns daran, dass der Nationalsozialismus ein Nachleben hat. Bis heute, wie wir wissen.

Georg Beck