O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Ole Schwarz

Aktuelle Aufführungen

Wenn die Liebe Blindheit besiegt

JOLANTHE
(Peter Tschaikowsky)

Besuch am
13. Januar 2022
(Premiere am 12. Januar 2022)

 

Philharmonie Berlin

Es gibt nur wenige Geschichten, die magischer sind als die einer schönen, jungen, aber blinden Prinzessin, die durch die Liebe zu einem jungen Ritter ihr Augenlicht wiedererlangt. Peter Tschaikowskys letzte Oper Jolanthe ist so eine – zauberhaft, leuchtend, poetisch und mit einem seltenen Happy End.

Die Geschichte spielt im 15. Jahrhundert in der französischen Provence. Die Tochter von König René ist von Geburt an blind, weiß es aber nicht, weil ihr Gefolge sie so umsorgt, dass sie ihren fehlenden Sinn gar nicht bemerkt. Ihre Augen, so denkt sie, sind nur zum Weinen da. Erst als der forsche Ritter Vaudémont ihr geschlossenes Gartenreich am väterlichen Schloss betritt und sich sofort in Jolanthes Schönheit verliebt, erkennt sie, dass ihr eine Dimension fehlt. Es ist dann die Macht seiner Liebe, die sie zum Augenlicht führt – und ihr die Angst vor dem grellen Licht nimmt, die sie nun umgibt.

Die Berliner Philharmoniker präsentieren unter der Leitung ihres Chefdirigenten Kirill Petrenko drei konzertante Aufführungen des 1892 in Russland uraufgeführten Werkes. Nach dem großen Erfolg des selten gespielten Dramas Mazeppa im vergangenen Jahr, setzt Petrenko sein Lieblingsprojekt fort, weniger bekannte Werke von Tschaikowsky auf die Bühne zu bringen. Seine Interpretation von Jolanthe setzt zunächst sehr zurückhaltend an, als berührte er die Partitur mit Glacé-Handschuhen. Moderate Tempi, feine Klavierschattierungen, pastellfarbene Klangfarben bestimmen den Beginn, und wenn die Damen des Berliner Rundfunkchors am Ende der dritten Szene ein Wiegenlied singen, gerät der sehr gut besuchte Saal in einen Zustand der Glückseligkeit. Erst später wird Petrenkos Strategie deutlich – er baut die gesamte erste Stunde der Oper als einen einzigen Spannungsbogen auf bis hin zum Höhepunkt des Liebesduetts, gefolgt von einer fast märchenhaften Schlussapotheose.

Petrenko wählt eine Besetzung, die zwar nicht vollständig aus Russland stammt, aber alle Musiker sprechen zumindest Russisch als Zweitsprache. Diese Sprachgewandtheit spiegelt sich in der Diktion, der Klarheit der Intonation und dem genauen Verständnis des Librettos wider, das vom Bruder des Komponisten, Modest, geschrieben wurde.

Foto © Ole Schwarz

Die Sopranistin Asmik Grigorian, die nach der kurzfristigen Absage von Sonya Yoncheva eingesprungen ist, interpretiert die Rolle mit herrlich unschuldiger Intensität und Klarheit. Ihr schlanker Sopran ist perfekt für die Rolle einer von Geburt an blinden Prinzessin, die nicht weiß, was es bedeutet, die Welt um sich herum anders zu begreifen. Ihre subtile Verwandlung aus der Dunkelheit zum Licht, die durch ein deutliches Crescendo in der Musik unterstrichen wird, ist ein ganz besonderer Moment. Ritter Vaudemont, dessen Liebe sie zu dieser Verwandlung führt, wird von Tenor Liparit Avetisyan verkörpert, dessen Timbre selbst in den höchsten Höhen prächtig schmachtet, der emotionale Emphase ausstrahlt und der ungeniert von dem Gebrauch macht, was man Tenorschluchzen nennt. Mika Kares, ganz in der Tradition der großen finnischen Bässe, ist Jolanthes fürsorglicher Vater, König René, der sie vor den Unbilden der weltlichen Realität schützen will. Der Bariton Igor Golovatenko als Herzog von Burgund und ursprünglich vorgesehener Bräutigam von Jolanthe lässt keine Gelegenheit aus, die schwungvollste Arie der Oper mit glänzenden Stahlakkorden wirkungsvoll zu schmettern.

Bariton Michael Kraus verleiht seiner Rolle als weiser Arzt, der Jolanthe hilft, ihr Augenlicht wiederzuerlangen, große Ernsthaftigkeit und Schöngesang. Die anderen Nebenrollen sind ebenso hervorragend besetzt: Altistin Margarita Nekrasova, als Jolanthes Vertraute, sticht hervor mit einem Ausbruch von Empathie für das Schicksal der jungen Frau. Die Rollen des Waffenträgers Almerik von Tenor Dmitry Ivanchey ebenso wie die des Torhüters Bertrand vom Bariton Nikolay Didenko werden mit Inbrunst vorgetragen.

Das glückliche Ende wird dadurch unterstrichen, dass Petrenko, das Orchester, der Damen- und Herrenchor sowie die Solisten sich mit solchem Elan in ein glorreiches Hosianna stürzen, dass der Zuhörer nicht umhin kann, als die volle Wucht der Musik und des Gesangs körperlich zu spüren.

Großer Beifall für alle! Immerhin unternimmt das Publikum die aktuellen Pandemie-Regeln – dreifach geimpft plus ein tagesaktueller Negativtest – gerne in Kauf, wenn so ein musikalischer Leckerbissen geboten wird.

Zenaida des Aubris