O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Ursula Kaufmann

Ruhrtriennale 2021

Tanz der Ureinwohner

DANZA Y FRONTERA
(Amanda Piña)

Besuch am
28. August 2021
(Premiere am 27. August 2021)

 

Ruhrtriennale, PACT Zollverein, Essen

Seitdem Politiker, Kultur- und Medienarbeiter versuchen, die Gesellschaft zu spalten und sich als Pseudo-Elite abzugrenzen, indem sie eine eigene Sprache erfinden, ist bei jedermann erhöhte Wachsamkeit angesagt. Wenn Ideologen alles unternehmen, um ein Volk in zwei Bevölkerungsgruppen wie Männlein und Weiblein zu trennen und spätestens, wenn diese Leute beginnen, Wörter zu verbieten, ist der Zenit der Belanglosigkeit überschritten. Dann muss man dem entschieden entgegentreten. Denn die Vergangenheit lehrt, dass es damit nicht endet. Und schon ist bei einem anderen Festival zu lesen, man müsse die Geschichtsschreibung neu denken. Oha! Diese Behauptung ist mindestens so alt, wie es Diktaturen gibt. Hier bezog sie sich auf den Kolonialismus, und das führt unmittelbar nach Essen, wo die Ruhrtriennale im PACT Zollverein die Choreografie Danza y Frontera – Tanz und Grenze – von Amanda Piña zeigt.

Anthropologin Piña hat sich als Choreografin zum Ziel gesetzt, von der Kolonialisierung verschüttete Tänze neu zu entdecken und sie mit der Gegenwart zu verbinden, um ihnen im Heute mehr Gewicht zu verleihen. Dagegen ist im Prinzip nichts einzuwenden, ganz im Gegenteil. Bedenklich ist schon eher, nicht etwa Verbindendes, sondern nach Unterschieden zu suchen. Piña vertritt die Auffassung, der westliche Tanz beruhe auf einer scheinbaren Abstraktion, während der Danza – mit dem Begriff umschreibt sie den indigenen, also eingeborenen Tanz – „ein viel ganzheitlicheres Konzept als Tanz“ umfasse. Dass das zudem in einem Umfeld der Unverständlichkeit geschieht, macht es nicht besser, auch wenn es nicht beabsichtigt ist. Denn laut Abendzettel soll das knapp anderthalbstündige Werk auf Spanisch mit deutschen und englischen Übertiteln aufgeführt werden. Die deutschen Übertitel entfallen. Und damit gibt es für einen Großteil des Publikums keine Geschichte mehr, sondern eine reine Tanzdarbietung.

Michel Jimenez hat für das dreiteilige Werk Bühne und Licht entwickelt. Der Bühnenboden ist mit Sand bedeckt. Im linken hinteren Drittel ist ein Sandhügel aufgeschüttet, der für solistische Auftritte Raum bietet. Hinten rechts ist die Technik aufgebaut. Vor der Bühne ist ein Gaze-Vorhang heruntergelassen. Ein hilfreiches Werkzeug, wenn es denn sinnvoll eingesetzt wird, um beispielsweise Projektionen zu ermöglichen. Dafür setzt Jimenez das Textil im ersten Teil ein, auch wenn die Projektionen handwerklich im Mittelmaß bleiben. Wird der Stoff während der gesamten Vorstellung belassen, weil er auch einige spezielle Lichteffekte ermöglicht, wird der Nachteil deutlich: Die Zuschauer bekommen das Gefühl, demnächst einmal den Optiker aufsuchen zu müssen, weil das Bühnenbild unscharf wird.

In den Projektionen werden zahlreiche Metamorphosen als Bilder wechselnder Machtverhältnisse gezeigt, ehe es auf die eigentliche Bühne geht. Acht Tänzer bewegen sich langsam und wellenförmig von hinten nach vorn, während der Klang, für den Christian Müller zuständig ist, von einer eher sphärischen Woge zunehmend zu rhythmischen Trommelklängen wechselt. Zwischenzeitlich gibt es auf dem Sandhügel besagte Soli. Immer wieder taucht in den Tanzbewegungen das Jesus-Motiv auf: Der Heiland hält die rechte Hand erhoben, während die linke auf dem Herzen ruht. Zwischenzeitlich darf auch Maria mit einem Schal um den Kopf erscheinen. Der zweite Teil, der eher in schleppenden Bewegungen vonstattengeht, mündet schließlich in der tatsächlichen Gefahr der Wüste. Schlangen. Hier dargestellt von einem künstlichen Exemplar, das die Tänzer bei Berührung zu konvulsivischen Zuckungen auf dem Boden veranlasst. Beim Licht hält Jimenez das Publikum weitestgehend von Überraschungen fern, wechselt vom Halb- ins Vierteldunkel, mal auch ins Rötliche. Zum Ende des zweiten Teils erlischt es.

Julia Trybula hat im ersten Teil herrschaftliche Kostüme verwendet, um die Machtwechsel zu demonstrieren, im zweiten Teil gibt es zahlreiche Andeutungen, wenn etwa ein Sonnengott mal im Hintergrund erscheint. Durchgängiges Motiv ist, dass die Tänzer Filmstreifen aus dem Mund heraushängen lassen. Der dritte Teil wird eingeleitet von einem Tänzer, der die Geschichte der Kolonialisierung und ihrer Folgen auf Spanisch erzählt. Der Trommelwirbel von Jorge Luis Cruz Carrera sorgt für einen big bang, der die Tänzer wieder auf die Bühne treibt. Und hier geschieht Befremdliches. Trybula hat die Tänzer in einen Rock mit ansonsten amerikanischer Bekleidung gehüllt. Die Zuschauer bekommen einen Eingeborenen-Tanz zu den scharfen, rhythmischen Klängen der Trommel zu sehen. Was ist das? Indianische Folklore des 21. Jahrhunderts? Fehlt nur noch der Bus mit amerikanischen Touristen, die den Regentanz vorgeführt bekommen. Die Irritation ist groß, zumal die Schritte und Bewegungen einer sehr genauen Choreografie folgen. Was etwas schleppend begonnen hat, endet in einem hochenergetischen Finale, das möglicherweise das falsche Signal aussendet.

Nach eher zögerlichem Applaus zurück auf dem heimischen Balkon dringt Party-Musik aus der Ferne ans Ohr. Da gibt es Musik, die Menschen verbindet, die ganz unbeschwert miteinander tanzen. Einfach so, unabhängig von ihrer Herkunft, Religion, Vergangenheit, ihrem Geschlecht oder was auch immer es sonst noch für Abgrenzungsmerkmale gibt. Am Ende dieses Abends bleibt die Frage: Sind die Choreografen der Gegenwart auf dem richtigen Weg? Der heutige Abend spricht kaum dafür.

Michael S. Zerban