O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Bettina Stöß

Aktuelle Aufführungen

Eigentlich alles richtig gemacht

FAR AND NEAR ARE ALL AROUND
(Juanjo Arqués, Demis Volpi)

Besuch am
15. Oktober 2020
(Uraufführung)

 

Deutsche Oper am Rhein, Oper Düsseldorf

Die gute Nachricht ist: Wir sind zwei Mal ausverkauft“, bitter klingt die Stimme des Intendanten. Christoph Meyer sind die Strapazen der vergangenen Stunden anzusehen. Eigentlich war alles gut vorbereitet für den Ballettabend, an dem der neue Ballettdirektor, Demis Volpi, zwei Uraufführungen präsentieren will. 460 Plätze hätten besetzt werden können, die Sicherheitsvorkehrungen haben sich seit Wochen bewährt. Ja, so etwas wie Vorfreude lag trotz der schwierigen Umstände in der Luft. Die Nachricht schlug ein wie eine Bombe. Mehr als 250 Plätze dürfen wegen der steigenden Infektionszahlen nicht besetzt werden.

Was tun? Die Hälfte der Leute nach Hause schicken? Ganz absagen? Das Haus ringt ohnehin schon um das Vertrauen seines Publikums. „Was ist, wenn wir zwei Mal spielen?“ fragt Volpi. Eine hübsche Idee. Als ob das so einfach ginge in einem Riesenbetrieb wie der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf. Es geht. Weil alle im Haus verstehen, dass sie jetzt kämpfen müssen, vom Intendanten bis zum Pförtner. Und sie stürzen sich in die Arbeit. Das Personal muss aufgestockt, das Publikum informiert und umverteilt, Wege neu eingerichtet werden. Das Unmögliche gelingt. Die erste Vorstellung ist auf 18 Uhr vorverlegt worden. Pünktlich betritt Meyer die Bühne, um das Publikum zu begrüßen. Mit zitternder Stimme erklärt er seinem Team öffentlich, wie stolz er auf die Leistung eines jeden einzelnen ist. An diesem Abend werden zwei Vorstellungen stattfinden. Aber auch ist wohl jedem im Raum klar: Einen nächsten Rückschlag darf es nicht geben. Die Grenze des Möglichen ist überschritten – und möglich war das nur, weil alle noch mal ihre letzten Kräfte mobilisiert haben.

Da ist der Moment ein besonderer, als die Lichter erlöschen und der Graben zur Hälfte hochgefahren wird, um das Streichquartett auf Sichthöhe zu bringen. Franziska Früh und Marina Pelàez Romero an den Geigen, Ralf Buchkremer an der Bratsche und Nikolaus Trieb sitzt hinter seinem Cello. Allesamt Meister ihres Fachs, die sich heute Abend ungewöhnlicher Musik widmen. Das Streichquartett Prometheus stammt von dem 54-jährigen Amerikaner Marc Mellits. Choreograf Juanjo Arqués hat die Musik für die Uraufführung seines Werks Spectrum ausgewählt. Darin setzt er sich in sieben Szenen mit der Zeit vom Shutdown bis heute auseinander. Er lässt die körperlichen und seelischen Empfindungen dieser Zeit austanzen. Eine der eindrucksvollsten Szenen ist sicher die, als eine Tänzerin, die nur als Schatten hinter einem weißen Vorhang erkennbar ist, synchron mit dem Tänzer vor dem Vorhang tanzt. Hier wird deutlich, was sich Volpi offenbar auf die Fahnen geschrieben hat und was sich durch den gesamten Abend zieht: Die Tänzer zeigen eine lange in Düsseldorf nicht gesehene Präzision. Der Eindruck wird sich während des nachfolgenden Stücks noch einmal verstärken.

Tatyana van Walsum hat für Spectrum die Tänzer in irritierend farbige Trikots gesteckt. Wenn Farbe Frohsinn und seelische Leichtigkeit versinnbildlicht, ist nicht ganz nachvollziehbar, in welchem Zusammenhang das mit der Zeit der Isolation und Kontaktarmut steht. Einleuchtender ist da schon ihre Bühnengestaltung mit den wechselnden Vorhanglamellen, die man wohl als Mauern begreifen darf. Volker Weinhart leuchtet ohne große Effekte, aber sinnvoll aus. Seine große Stunde steht kurz bevor. Die Bewegungssprache Arqués‘ ist eingängig, bietet schöne Bilder in den Soli und Corps-Auftritten, ohne große Überraschungen zu liefern. Muss ja auch nicht sein. Für einen unterhaltsamen Abend reicht der Auftritt gerade im Gesamtbild allemal.

„Anstelle einer Pause“ fährt nach dem vom Publikum umjubelten Stück der Graben vollends hoch, um das Streichquartett in den Mittelpunkt zu rücken, dass das rund 20-minütige Ritornello 2.sq.2.j.a aufführt. Komponiert hat es die gerade mal 38 Jahre junge Komponistin, Geigerin und Sängerin Caroline Shaw aus North Carolina. Die Streicher liefern damit eine schöne Überleitung zur Partita for 8 Voices, die vor sieben Jahren mit dem Pulitzer-Preis für Musik ausgezeichnet wurde und Volpi zu seinem neuesten Werk inspirierte. Die Reihenfolge, dass ein Choreograf zunächst die Musik findet und danach seinen Tanz kreiert, gilt eher als verpönt und so ordnet Volpi den Vorgang auch gleich als für seinen Arbeitsstil sehr ungewöhnlich ein. Und das Publikum darf dankbar für das Wagnis sein. Denn Volpi setzt mit A Simple Piece ein deutliches Zeichen. Einfach ist an diesem Stück überhaupt nichts. Allein für das viersätzige A-cappella-Chorwerk, das an diesem Abend nur von der Festplatte eingespielt wird, hat Shaw drei Jahre gebraucht. Acht Tänzerinnen und Tänzer versammelt der Choreograf analog zu den Stimmen auf der Bühne. Die Kostüme von Carola Volles kann man sicher diskutieren. Weiße Oberteile, die bei den Herren vollständig, bei den Damen auf dem Rücken transparent sind, werden kombiniert zu grauen, schweren Schlaghosen, die von der Beinarbeit nur noch Grobes erkennen lassen, aber immerhin noch für ein Gimmick genügen. Wir sind hier offenbar in die Welt schwer arbeitender Menschen eingedrungen. Dafür spricht auch die metallene Rückwand, die bei der künftigen Premiere in Duisburg sicher noch mehr Assoziationen hervorrufen wird. Volker Weinhart hat sich hier selbst übertroffen. Sonst eher mit Routine-Aufgaben betraut, kann er hier seine ganze Kunstfertigkeit zeigen, entwickelt das Licht analog zu den Variationen der Partita, lässt es in Mustern immer weiter über den Boden krauchen, ohne die Tänzer „absaufen“ zu lassen. Teilt die Bühne in immer neue Handlungsräume ein und erweitert sie Stück für Stück. Die Beschränkung auf Weißlicht und Schatten ist hier meisterhaft entwickelt. Sicher eine der besten Arbeiten Weinharts, wenn nicht die beste bislang. Dazu passt, das Volpi hier eine ganz neue Bewegungssprache implementiert. Hier gibt es keine Hin- und Herlauferei. Die Körper sind ganz auf sich und den Ort konzentriert, verschieben sich gemeinsam vor und zurück, zeigen ungewöhnliche Bewegungen, die oft auch nur angedeutet werden, halten die Spannung über den gesamten Zeitraum aufrecht.

Das will in Düsseldorf vielleicht nicht jeder sehen, neue Bewegungsformen, die nah am Hiphop sind, mit moderner Musik und ohne Handlungsballett und so. Aber Volpi zeigt zeitgenössisches Tanztheater, das in die Zukunft weist. Und das ist etwas, was die Oper dringend gebrauchen kann. Schon jetzt, nach seinem Ballettwochenende als Einstand, scheint sich das Alter der Besucher deutlich verjüngt zu haben. Das Publikum an diesem Abend ist jedenfalls restlos begeistert. Mag sein, dass es auch anderweitig enthusiasmiert ist, weil es weiß, dass jetzt jeder Applaus gebraucht wird, und deshalb versucht, die „fehlende Hälfte“ in der Lautstärke zu ersetzen. Aber so viel Begeisterung, natürlich immer in den Grenzen des sich selbst disziplinierenden Publikums, für das es kein Aufspringen und Rufen mehr gibt, hat man lange nicht mehr erlebt.

Auf dem Weg an die frische Luft lernen viele Besucher ganz neue Ausgänge der Oper kennen, denn sie werden durch die Seitenausgänge geleitet. Vor dem Haupteingang warten glücklicherweise schon die Besucher für die nächste Vorstellung.

Michael S. Zerban