O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Klaus Fröhlich

Aktuelle Aufführungen

Explosive Energie

HYBRIDITY
(Rafaële Giovanola)

Besuch am
19. September 2020
(Premiere am 18. September 2020)

 

Ringlokschuppen, Mülheim an der Ruhr

Lange war sie erwartet worden, die neue Produktion von Cocoon Dance. Und die Puristen unter den Fans der Tanzcompagnie, die sie zuerst im Ballsaal in Bonn-Endenich sehen wollen, müssen sogar noch länger warten. Erst Ende September, Anfang Oktober wird sie dort zu sehen sein. Alle anderen konnten die Uraufführung am Vorabend im Ringlokschuppen Ruhr in Mülheim an der Ruhr erleben. Bei den Besucherzahlen, die derzeit möglich sind, war die sofort ausverkauft, wie auch heute bei der zweiten Aufführung kein erlaubter Platz mehr frei ist.

Das Einlasspersonal ist freundlich, aber bestimmt. Nur jeder zweite Platz darf besetzt werden, es herrscht also ein Abstand von rund einem halben Meter zwischen den Gästen. Das ist albern, wird aber beherzt auch dann durchgesetzt, wenn sich Paare in dem guten Willen nebeneinandersetzen, um mehr Abstand zu den anderen Gästen zu schaffen. Sei’s drum. In diesen Tagen geht es nicht darum, über Sinnhaftigkeit zu diskutieren, sondern Aufführungen möglichst anstandsfrei zu genießen. Pünktlich beginnt die Vorstellung, auch das derzeit schon ein großer Gewinn, den man selten erlebt.

Die Bühne ist leer. Auf dem Boden ist ein raumfüllendes, graues Viereck ausgelegt. Nebel wabert. Auf der linken Seite sammeln sich im Hintergrund die sechs Tänzer, vom Bodenlicht gegenbeleuchtet. Die vibrierenden Beine verströmen unbändige Energie. Ein großartiges Bild, das vielleicht etwas kürzer ausgefallen auch funktioniert hätte. Sogleich stellt sich die Frage, um was es an diesem Abend eigentlich geht. Hybritidy bedeutet im Deutschen so etwas wie Mischung oder Kreuzung. Gegeneinander durchlässig gemacht werden sollen hier zwei Kulturen. Auf der einen Seite steht, so sagt die Choreografin Rafaële Giovanola, die Kultur des klassischen Balletts, auf der anderen die des Thai-Boxens. Angesichts der bevorstehenden Aufführung sollte man diesen theoretischen Überbau ebenso schnell wieder vergessen wie die Ausführungen „zum hybriden Körper, der für eine Zeit geschaffen ist, in der die Evolution und die Natur das Wirken des Menschen nicht mehr bewältigte“. Denn was kann schöner sein als die Praxis, die die Theorie überflügelt?

Von der ersten Sekunde an ist der Raum von der Energie der Tänzer gefüllt. Gestört wird sie nur vorübergehend von den Scheinwerfern, die Boris Kahnert gegen das Publikum richtet. Auch in dieser Aufführung wird nicht klar, was es dem Lichtgestalter bringt, die Besucher zu blenden. Aus der fehlenden Sicht der Zuschauer vollkommen überflüssig, ja, ärgerlich. Davor wandern die Tänzer zur anderen Seite. Erst allmählich ist das Publikum wieder bereit, die vibrierenden Impulse wahrzunehmen. Fa-Hsuan Chen, Martina De Dominicis, Alváro Esteban, Susanne Schneider, Anna Harms und Frédéric Voeffray können aus dieser pulsierenden Grundenergie immer wieder blitzschnelle Bewegungen generieren. Giovanola hat hier etwas völlig Neues entwickelt. Wie vom Flitzegummi – so nennt man die Zwille im Rheinland – schießen sie über die Tanzfläche, ohne sich einander zu berühren. Immer aber sind es die Beine, die hier für die explosiven Bewegungen sorgen. Die Arme bleiben steif am Körper.

Nach einer halben Stunde finden sich die Tänzer wieder zu einem gebückten Körper zusammen. Als sie sich erneut erheben, langsam, zögerlich, hat Giovanola noch eine Idee in petto. Dabei steht die ganze Zeit die Frage im Raum, ob die Kostüme von Mathilde Grebot wirklich der Situation gerecht werden. Nein, möchte man sagen. Mit unförmigen Trainingshosen, unter denen Strumpfhosen leuchten, und vielfältigen, verschiedenen T-Shirts ausgestattet, geraten die Körper zur Beliebigkeit. Wer Körper auf ein nicht gekanntes Energie-Level hebt, darf sie auch auf der erotischen Ebene befördern. Nein, dazu reicht es nicht. Aber immerhin sind die selbstgenähten Ballett-Trikots mit integrierten Knieschonern und Schuhen geeignet, für ein lustiges Quietschen zu sorgen, wenn sie die Tänzer auf dem Boden bewegen. In der zweiten Hälfte werden plötzlich die Hände aktiv, führen die Fäuste in atemberaubender Geschwindigkeit zu Thai-Box-Bewegungen. Damit wird eine neue Energie-Ebene erreicht, die nach der rasanten Aufführung zuvor unvorstellbar war.

Unterstützt wird die Aufführung durch die Musik von Franco Mento nach Motiven von Jörg Ritzenhoff, dem Kölner Komponisten, mit dem Coccon Dance so gern zusammenarbeitet. Während Ritzenhoff immer gern selbst live an seinen Instrumenten arbeitet, kommen die Klanglandschaften von Mento von der Festplatte. Das reicht von melodiösen Einfällen bis zu kosmischem Knistern. Immer laut, immer energiegeladen, gibt Mento den Takt vor.

Als das Corps zum Applaus antritt, ist De Dominicis schweißüberströmt. Wie statisch aufgeladen fühlt sich allerdings das Publikum, wenn der Rest der Mannschaft so tut, als habe sie die Anstrengungen des Abends nicht weiter berührt. Das Publikum indes verweigert die Nonchalance und johlt unbeherrscht und grenzenlos. Cocoon Dance darf mit Vorfreude auf die kommenden Aufführungen schauen.

Michael S. Zerban