O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Klaus Handner

Aktuelle Aufführungen

Energiebündel ohne Halt

IN-SIDE SENSE
(Maura Morales)

Besuch am
1. Dezember 2023
(Uraufführung)

 

Forum Freies Theater, Düsseldorf

Seit Tagen steigt die Vorfreude, genährt von Videos und Fotos auf den sozialen Kanälen von Maura Morales und Michio Woirgardt. Da sprühte die Energie nur so, wie man es halt von der Cooperativa Maura Morales gewohnt ist. Nun ist es also so weit. Im Düsseldorfer Forum Freies Theater herrscht Betrieb wie selten. Das verwundert nicht, denn Tänzerin und Musiker sind inzwischen weltweit so gefragt, dass sie nur noch wenig Zeit in Düsseldorf verbringen. Im Oktober hat Morales ihre erste Oper – Maria de Buenos Aires – am Theater Vorpommern inszeniert und choreografiert. Im September war Woirgardt in der Schweiz, um für die Company Idem eine eigene Musik zu komponieren. Um nur zwei Beispiele ihrer Aktivitäten zu nennen. Nun also werden sie ihre neueste gemeinsame Arbeit in ihrem „Heimattheater“, wie sie das Forum Freies Theater selbst nennen, uraufführen.

Über das, was die Zuschauer erwartet, ist im Vorfeld nicht viel zu erfahren. Die Frage an der Abendkasse nach einem Programmheft oder wenigstens Abendzettel sorgt für müdes Lächeln. Eine Postkarte mit den Tourdaten finde sich irgendwo im Foyer. Auf der Netzseite des Theaters gibt es immerhin ein paar kryptische Sätze über In-Side Sense. Der innere Sinn ist der Titel der neuen Produktion. Die Beschreibung dort erinnert eher an den Befund einer neurologischen Erkrankung als an einen Tanzabend. Mit einer viertelstündigen Verspätung kann die Aufführung endlich beginnen, aber auch die Bühne verrät zunächst nicht viel über die bevorstehenden Ereignisse. Links hinten in einer Nische hat Woirgardt seine Ausstattung aufgebaut, die von Gitarren über Computer bis zu ungewöhnlichen Hilfsmitteln wie Drahtbürsten reicht. Über der Bühne hängt freischwebend ein weißer Fensterrahmen. Ein weißer Hocker auf der rechten Bühnenseite vervollständigt das Bild.

Bemerkenswert sind die Kostüme, für die die Cooperativa eigens die Düsseldorfer Modedesignerin Marion Strehlow beauftragt hat. Die kurzen, beigefarbenen Hosen, die im Bund bis zum Bauchnabel reichen, sind aus einem Stoff, der an die derbe Arbeitsbekleidung von Bauarbeitern erinnert. Darüber tragen die Tänzer halbtransparente, hautfarbene Blusen mit einem Loch in Höhe des Dekolletés, die eine enorme Widerstandskraft besitzen. Für einen späteren Überraschungsauftritt hat sie ein weiteres Kostüm ganz in Schwarz angefertigt. Und auch Woirgardt trägt einen Anzug, der in seiner Extravaganz so aussieht, als sei er eigens für diesen Abend angefertigt.

Kira Metzler, Claudio Rojas und Giulia Russo betreten die Bühne. Metzler und Rojas stellen sich vor dem Pult des Musikers auf, Russo nimmt auf dem Hocker Platz. Nach einigen Sprachübungen zum ausgesprochenen Vergnügen des Publikums und einem von Russo auf Englisch vorgetragenen Text beginnt der eigentliche Tanz. Woirgardt hat seine Musik diesmal sehr viel direkter auf die Tänzer zugeschnitten. Er entfaltet einen Klang, der mitunter Tales of Mystery and Imagination von The Alan Parsons Project assoziiert, aber auch schon mal an die Filmmusik von Science-Fiction-Filmen erinnert. Über Klangteppichen ertönen die gestrichenen Saiten von E- oder akustischen Gitarren. Wie immer greift der Komponist aber auch gern mal zu ungewöhnlichen Klangerzeugungsinstrumenten wie einer Drahtbürste. Irritierend, wenn er immer mal wieder einen Klangfluss abrupt abbricht, um einer neuen Idee zu folgen. Mit den Tänzern bleibt er dabei stets im rhythmischen Einklang.

Wer Morales‘ Bewegungssprache aus früheren Produktionen kennt, wird auch heute Abend nicht enttäuscht. Das Energie-Level wird auf die höchste Stufe gefahren, ungewöhnliche Wendungen und Kombinationen gehören zum Standard. Während Rojas häufig den Damen behilflich ist, interessante Positionen einzunehmen und zu ermöglichen, biegen die ihre Körper auf beängstigend akrobatische Weise. Unbedingt erwähnenswert ist dabei das Lichtdesign von Grace Morales Suso. Um die Bühne herum ist eine LED-Leiste gelegt, diein der Kombination mit den Strahlern einige eindrucksvolle Effekte erzeugen.

Etwa in der Hälfte der Choreografie verliert Russo scheinbar den Halt und gibt so einen Hinweis auf die Idee der Produktion. Was, wenn du instinktive und gesicherte Bewegungen plötzlich nicht mehr beherrschst, dein innerer Sinn dafür abhandenkommt? Routinierte Abläufe abrupt nicht mehr funktionieren? Es bleibt bei der Andeutung. Und so wirklich vermisst das auch niemand. Als Metzler ihre Bluse ablegt, sind ihre Brüste dermaßen mit braunem Heftpflaster verklebt, dass es weniger ästhetisch als eher krankhaft aussieht. Da wird man im Laufe der nächsten Aufführungen sicher elegantere Lösungen finden. Derweil muss Russo damit leben, dass ihr die Pflaster mit dem Ablegen der Bluse verlorengehen. Aus visuell-ästhetischer Sicht eher ein Gewinn als eine Panne. Ohnehin steht die Choreografie außerhalb jeder voyeuristischen Lust, und so nimmt das Publikum eher als gewollt.

Ohnehin folgt die eigentliche Überraschung bereits wenige Minuten später, genauer: in Minute 55. Während die drei Tänzer in der Bühnenmitte ineinander verschlungen liegenbleiben, betritt Maura Morales als „Königin der Nacht“ die Bühne. Ein schlicht atemberaubender Moment. Sie lässt sich auf dem Hocker nieder, und ein Text recht düsteren Inhalts erklingt von der Festplatte. Danach kann nichts mehr kommen.

Das Publikum springt von den Stühlen, um ein weiteres Meisterwerk aus der Feder der Cooperativa Maura Morales frenetisch zu feiern. Zurecht. Am Wochenende sind noch zwei weitere Aufführungen vorgesehen, ehe die Produktion auf Tour geht.

Michael S. Zerban