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Alfred Kerr soll
einmal zu spät ins Theater gekommen sein. Der Logenschließer
ließ ihn ein und legte dabei einen Finger auf den Mund, was
den Theaterpapst zur Replik veranlasst haben soll "Sind denn
schon alle eingeschlafen?!"
Diese Anekdote gibt Anlass zu Fragen nach der Professionalität
von Schließern und Besuchern: Welcher Teufel hat den Schließer
geritten, die Logentür bei laufender Aufführung zu öffnen?
Offenbar der Promi-Bonus Kerrs!
Und welche flegelhafte Anwandlung überkam den Ästheten, das
unseriöse Angebot überhaupt anzunehmen? offenbar die Arroganz
der Prominenz. Haben beide - Schließer und Besucher - eigentlich
daran gedacht, was nach Öffnung der Tür geschieht - Licht
fällt in den dunklen Raum, 500 Zuschauer werden aus der Illusion
gerissen; der Plumpsack sucht im Dunklen seinen Platz, blind
wie ein Maulwurf stolpert er auf seinen Sitz. Doch hoffen
wir, dass im Foyer die Lampen dämmerten und Kerrs Platz direkt
an der Tür lag.
Und schließlich: Was war mit dem Respekt vor den Akteuren
auf der Bühne? Türenklappen, plötzlicher Lichteinfall, Unterbrechung
der entstandenen Spannung zwischen Bühne und Auditorium -
nie davon gehört, der Profi-Schließer und der Profi-Kritiker?
Offenbar alles vergessen, was Theater ausmacht: die Konzentration
von Darstellern und Zuschauern auf das bedeutungsvolle Bühnengeschehen.
Wie immer die Kritik Kerrs an dem von ihm "mitgestalteten"
Theaterabend ausfiel: konkretes Verhalten und theoretische
Anspruch klafften enorm auseinander.
Und das geschieht auch heute noch!
Da sitzt man in der "Mittelloge" eines nordostdeutschen Staatstheaters,
wird nach der ersten Pause auf seine gültige Eintrittskarte
gefilzt (da fragt man sich schon, in welchem Etablissement
man sich befindet, wenn als Begründung herhalten muss: "Sie
glauben gar nicht, wer sich hier einschleicht") und erlebt
dann im enorm intensiven dramatischen Moment (Otello ist vom
denunziatorischen Gift Jagos getroffen) wie sich im Rücken
die Tür öffnet, eine Gestalt vorbeirauscht und sich direkt
im Blick auf die Bühne plaziert. Klar: Situation gestört,
Spannung weg, man möchte raus - geht aber nicht, weil: Aufstehen,
Stuhl rücken, Tür öffnen und schließen - die Steigerung der
flegelhaften Störung. Akt drei geht zu Ende, Pause. Der angesprochene
Störer reagiert naiv "Die Schließerin hat mich reingelassen".
Die Schließerin "Ja, kennen Sie den Herrn nicht?" Es ist ein
Ex-Sänger des Hauses.
Was soll man dazu sagen? Die Kerr-Situation wird zur Möchtegern-Realität.
Kein Respekt vor Sängern und Zuschauern, kein Verständnis
für die unwiederholbare Situation des Gefangenseins durch
Faszination, aber - die Ignoranz bestätigend - kein entschuldigendes
Wort. Die "Stimmung" ist hin, die Illusion zerstört, Bonsai-Profis
verjagen einen Opern-Enthusiasten.
Dies ist ein Hilferuf: Rettet das "Theater der Einsamkeit"
(Robert Ciulli), lasst es nicht zu, dass die Erlebnisse des
"Gesamtkunstwerks" zum beliebigen Verbrauch verkommen!
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