Kulturmagazin mit Charakter
Das Landesjugendorchester NRW verreist
Nach dem gelungenen Einstand in Lille wartet der Auftritt in der Kathedrale von Tournai auf das Landesjugendorchester NRW. Nicht nur in Sachen Unterbringung bedeutet das für die Nachwuchsmusiker noch mal eine echte Steigerung. Die Eltern werden am Ende des Abends begeistert sein. Die Eltern? Ja, ja, aber die sind so ganz ohne Helikopter(-allüren) unterwegs. So viel sei schon verraten: Es wird der Höhepunkt der Tournee.
Eine der schönsten Erfahrungen dieser Reise ist Europa“, äußert sich Elisabeth Rummenhöller enthusiastisch. Sie bekleidet neben Raphael Gisbertz gleichberechtigt die Position des Konzertmeisters. „Du fährst hier rum, als sei es ein einziges Land. Das ist großartig“. In der Tat muss man an diesem warmen, sonnigen Sommermorgen aufpassen, dass man auf der Autobahn das Schild mit der durchgestrichenen Aufschrift France überhaupt mitbekommt. Das ist irgendwie so was wie ein Versprechen auf die Zukunft, auch wenn es noch nicht überall in Europa so aussieht und das Ganze im Moment eher fragil wirkt. Jetzt geht es jedenfalls erst mal vom französischen Amiens ins belgische Tournai, ohne dass irgendjemand nach seinem Personalausweis oder Reisepass suchen muss. Auch Rita Menke ist wieder an Bord und hat sich dem Reisetross angeschlossen. Es verspricht, ein wunderbarer Tag zu werden.
„24 Kirchen gibt es in der Stadt“, erzählt Titularorganist Etienne Walhain von der Cathédrale Notre Dame de Tournai. Aber die meisten sind inzwischen umgewidmet, viele zu Appartement-Häusern umgebaut. Auch die Kathedrale im Stadtzentrum ist eine riesige Baustelle. Allerdings geht es da mehr um den Erhalt des Meisterwerks der Scheldegotik als Gotteshaus. Walhain, der sich auch in Deutschland längst einen Namen als Kirchenorganist gemacht hat, freut sich riesig über den Besuch des Landesjugendorchesters und unterstützt die Organisation nach Kräften. Die Kathedrale absperren, damit die Musiker sich in Ruhe vorbereiten können? Kein Problem. Da muss man ihn schon bremsen. Wunderbar. Wasser für das Abendessen der Musiker fehlt? Kein Problem. Gemeinsam geht es in einen Discount, den ein deutscher Besucher der Stadt wohl niemals gefunden hätte. Auf solche Unterstützung ist man auf einer Konzertreise im Ausland dringend angewiesen und umso dankbarer, wenn es auch solche Menschen gibt.
Es läuft alles wie am Schnürchen. Sebastian Tewinkel hat mit den Bühnenbauern den idealen Standort der Bühne ausfindig gemacht, routiniert zügig haben Kurt Meißner und Tim Esser den Lkw entladen. Das Mittagessen kann man in einem der zahlreichen Lokale auf der Grand Place einnehmen, bevor es zur Probe geht. Der Dirigent ist entspannt, weil sich die Akustik als ausgesprochen wohltuend erweist. Die Proben verlaufen für alle Beteiligten zufriedenstellend. Fast möchte man schon von so etwas wie Routine sprechen. Anschließend bekommen alle noch Gelegenheit zur Entspannung, Baguettes zum Abendessen und es ist sogar noch Zeit, die Eisdielen der Innenstadt zu stürmen.
Frühzeitig treffen einige Eltern der Jungmusiker ein. Man hat ihnen eigens Plätze reserviert. Eine schöne Geste, die sie aber ablehnen. Denn hier erscheinen keine Helikopter-Eltern, die rund um das Wohl des Kindes kreisen und dafür auch gern schon mal eine Sonderrolle beanspruchen. Nein, sie versuchen, möglichst unauffällig zu erscheinen, die Kinder werden kurz und herzlich begrüßt, das war’s. Das sind Eltern, die sich einfach über die Erfolge ihrer Kinder freuen und daran im Hintergrund ein bisschen teilhaben wollen. So wie die Eltern von Clarissa Krummel aus der Gruppe der Schlagwerker. Die waren bereits in Lille dabei. Sie haben ihre Tochter mal schnell in den Arm genommen, um sich danach sofort zurückzuziehen. Raphaels Eltern waren kurz beim Fotografen, weil sie sich auf schöne Bilder freuen. Und die anderen treten gar nicht erst in Erscheinung. Orchestermanagerin Menke hat in den letzten 38 Jahren auch andere Elternhäuser kennengelernt, aber sie belässt es bei der Andeutung. Schließlich durften sich „ihre Schützlinge“ immer auf ihre Diskretion verlassen, auch wenn sie ihr mal ihr Herz ausschütteten.
Gleiches Programm, anderes Konzert. Der sehr viel wärmere Klang lässt die Musik märchenhafter erscheinen, Tewinkel geleitet die Musiker entspannt auch durch die schwierigen Passagen, setzt deutlichere Akzente. Raphael beweist erneut sein solistisches Können, kann diesmal sein Solo noch eindrücklicher präsentieren. Der Abend glänzt. Menke hat in der letzten Reihe Platz genommen. Sie weiß von der Generalprobe im Sauerland, dass ihr die ungewöhnliche Zugabe gewidmet ist, aber sie jetzt im Konzert zu hören, da muss sie schon ihre ganze emotionale Kraft aufwenden, um sich nach Möglichkeit nichts anmerken zu lassen. Im Vordergrund zu stehen, war ja nie ihre Stärke – und das wird sie jetzt auch nicht mehr ändern. Dazu ist sie zumindest fest entschlossen.
Einmal mehr hat das Jugendorchester seine hochkarätige Qualität unter Beweis gestellt und wird vom Publikum mit entsprechender Begeisterung applaudiert.
Michael S. Zerban
Mehr Eindrücke von der Reise gibt es hier in der Bildergalerie.